Die Macht des Schweigens

Politische Kommunikationsregime im Europa des langen 19. Jahrhunderts

Stipendiat

Dr. Theo Jung, Freiburg

Förderung

Die Gerda Henkel Stiftung unterstützt das Projekt durch die Gewährung eines Forschungsstipendiums und die Übernahme von Sachkosten sowie von Kosten für eine wissenschaftliche Tagung zum Auftakt des Projekts.

Dass Politik sich durch verschiedene Arten des Wortgebrauchs vollzieht, erscheint heute selbstverständlich. Doch bis weit in das 18. Jahrhundert hinein war Politik mit Schweigsamkeit konnotiert, mit kluger Verstellung und dem Privileg, nicht Rede und Antwort stehen zu müssen. Erst im Laufe des langen 19. Jahrhunderts setzte sich vor dem Hintergrund des Aufstiegs des parlamentarischen Konstitutionalismus und der Massenpolitik ein Politikverständnis durch, infolge dessen wir es heute gewohnt sind, Politik als „Debatte“ zu betrachten und politische Macht mit dem Recht und der Pflicht identifizieren, sich zu Wort zu melden. Schon Zeitgenossen erschien das 19. Jahrhundert als siècle des mots, in dem sich verschiedene Modi des government by speaking oft mühsam, aber schließlich doch unumgänglich über den europäischen Kontinent ausbreiteten. Umgekehrt galt dieser Prozess in doppelter Hinsicht als Kampf gegen das Schweigen: gegen die auferlegte Unmündigkeit zugunsten der politischen Redefreiheit sowie gegen das hoheitliche Arkanum zugunsten politischer Transparenz und Rechenschaft. Auch wenn die Legitimität des Schweigens im politischen Raum strukturell zunehmend in Frage gestellt wurde, verschwand diese Praxis keineswegs aus dem Repertoire politischer Akteure. Im Gegenteil: Gerade als die Erwartungen an das politische Wort immer höher geschraubt wurden, wurde das Schweigen überhaupt erst zum Politikum, und es bildeten sich neue Formen und Funktionen politischen Schweigens heraus.

Dr. Theo Jung untersucht im Rahmen seines Habilitationsvorhabens die Praktiken des politischen Schweigens und ihre Rezeption im 19. Jahrhundert aus europäisch vergleichender Perspektive. Anstelle des in der Forschung üblichen Fokus auf das, was politische Akteure sagen, rückt er die Art und Weise, wie sich politische Kommunikation gestaltet, in den Vordergrund. Er berücksichtigt dabei zum einen verschiedene politische Akteure (Herrscher, Parteiführer, Abgeordnete und andere professionelle Politiker, das Volk) und untersucht die Interaktion zwischen diesen Individuen bzw. Gruppen. Zum anderen konzentriert er sich auf die Vielfalt politischer Arenen und beschäftigt sich mit den Unterschieden zwischen den offiziellen politischen Räumen und den inoffiziellen, oftmals privaten „Hinterzimmern“. Im Mittelpunkt stehen deswegen nicht nur Parlamente und Parteiversammlungen, sondern auch Debatten auf der Straße sowie in der Presse bis hin zu privaten Konversationen in Salons, Klubs und Kneipen.

Joseph Ducreux, Le Discret, ca. 1790: Diskretion war und ist eine wichtige politische Tugend.

Der Untersuchungszeitraum beginnt mit den 1780er Jahren und reicht bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Räumlich erstreckt sich die Studie mit Großbritannien, Frankreich und Deutschland auf jene Länder, die die politische Landschaft Europas zu jener Zeit dominierten. Ausgehend vom zeitgenössischen Topos le silence des peuples est la leçon des rois wird etwa das Verhältnis zwischen der politischen Autoritätsfigur und ihrem Publikum am Beispiel der Frage untersucht, was passierte, wenn die erwartete Zustimmung (Hurrarufe, Applaus) plötzlich ausblieb. Kontroverse Fälle von „schweigenden“ Politikern wie etwa Adolphe Thiers oder Benjamin Disraeli während der so genannten „Bulgarischen Krise“ bieten die Möglichkeit, die kommunikativen Erwartungen verschiedener Gruppen einschließlich Volk und Presse zu verstehen. Neben transkriptiven Quellen wie Protokollen und Sitzungsberichten bezieht Dr. Jung auch normative Texte, in denen Regeln für „korrektes“ Sprachverhalten kodifiziert wurden, sowie deskriptive Quellen wie Tagebücher, Reise- und Presseberichte in seine Analyse mit ein. Im Rahmen einer interdisziplinären Tagung am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg am 29. und 30. September 2017 lud Dr. Jung zu einer Diskussion über verschiedene Formen der Unterlassung von Partizipation in der europäischen Moderne ein.

George Cruikshank, "A Free Born Englishman! The Admiration of the World!!! And the Envy of Surrounding Nations!!!!!": Die britische Redefreiheit steht 1819 unter Druck.