Menschenzucht

Frühe Ideen und Strategien 1500–1870

Stipendiatin

Prof. Dr. Maren Lorenz, Bochum

Förderung

Die Gerda Henkel Stiftung unterstützte das Projekt durch die Gewährung eines Forschungsstipendiums sowie die Übernahme von Reise- und Sachkosten und hat für die Veröffentlichung der Studie einen Druckkostenzuschuss zur Verfügung gestellt.

Ideale Form des weißen männlichen Körpers nach den Geometrien antiker griechischer Bildhauerei. Kupferstich aus dem Kapitel zu Malereitechniken im dritten Band der „Enzyklopädie“ von Denis Diderot (1763).

Utopien der Menschenzucht sind vielleicht so alt wie die menschliche Zivilisation selbst, und nicht erst seit der Moderne wünscht man sich den optimal leistungsfähigen Menschen. Bereits in der Renaissance und während der Aufklärung gewannen Fragen der Bevölkerungspolitik in Europa und auch in den jungen USA an Relevanz für das Selbstverständnis der entstehenden Nationalstaaten. Seit Beginn der Frühen Neuzeit entwarfen staatspolitisch engagierte Ökonomen und Mediziner verschiedene, an die jeweilige Staatsform angepasste Bedarfsszenarien und suchten nach Wegen zur Produktion perfekter „Untertanen“ für ihren idealen Staat. Im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts forderten Literaten, Philosophen, Sexualaufklärer, Theologen, religiöse Utopisten, Politiker und erste Frauenrechtlerinnen aus ganz unterschiedlichen Interessen staatliche Regulation und Kontrolle über die zuvor primär religiös normierte Reproduktion. Diese sollte sich nun allein am Staatswohl und nicht am gleichzeitig so gern postulierten Recht des Individuums orientieren. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts etablierte sich schließlich die Eugenik als eigene Wissenschaft.

Prof. Dr. Maren Lorenz hat sich in ihrem Forschungsvorhaben mit Utopien der Menschenzucht im Alten Reich, Frankreich, Großbritannien und den USA im Zeitraum von 1500 bis 1870 beschäftigt. Ihre Analyse der unterschiedlichen wissenschaftlichen Vorstellungen und Konzepte in Traktaten und aufklärerischen Journalen, literarischen Texten, politischer und religiöser Propaganda, aber auch in Presseberichten und populären Ehe- und Sexualratgebern aus rund 350 Jahren zeigt, wie eng die scheinbar verschiedenen Ansätze grenzüberschreitend und über die Zeiten hinweg miteinander verflochten waren. Auch die Menschenbilder wandelten sich: vom Geschöpf Gottes, das als sein Ebenbild grundsätzlich bereits vollkommen ist, durch (physio-moralische) Faktoren jedoch beschädigt werden kann, hin zum utilitaristisch betrachteten gefährdeten Mängelwesen, das der ständigen externen wie auch der Selbst-Kontrolle und Optimierung bedarf. Die Geschlechterrollen und die Ordnung der überkommenen Ständegesellschaften wurden seit der Aufklärung neu diskutiert und legitimiert. Die kolonialen Interessen Frankreichs und Großbritanniens, die Frage von Immigration und Sklaverei in den USA und der Umgang mit der als minderwertig betrachteten irischen Bevölkerung in England ließen zudem Fragen der „Rasse“ in den Fokus der Überlegungen treten. Unter dem auch öffentlichen Druck eines immer differenzierteren Legitimationsbedarfs gingen traditionelle religiös-patriarchale Denkmuster neue Allianzen mit medizinischen, physiologischen und anthropologischen Diskursen ein.

Die Vielzahl frappierender und drastischer Beispiele zeigt, wie durch intensive Rezeption über Sprach-, Disziplin- und Staatsgrenzen hinweg mittels apokalyptischer normativer Szenarien zunächst die Grenzen des öffentlich Sagbaren und bald auch des sozial Machbaren immer weiter verschoben wurden. So definierte man bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ontologisch immer neue Gruppen hinzu, derer sich ein perfekter Staat mit allen Mitteln zu entledigen hatte, um langfristig im Kampf um die begrenzten Ressourcen der Welt bestehen zu können. Die Staatsräson, so ein zentrales Ergebnis der Studie, hatte nun stets Vorrang vor der Freiheit des Einzelnen, während Gott als allmächtiger Schöpfer immer mehr in den Hintergrund gedrängt wurde. Gleichzeitig traf die individuelle Bereitschaft zur Selbstoptimierung mit dem Ziel, erbliche „Degeneration“ möglichst präventiv zu verhindern, auf wachsende Zustimmung in der Gesellschaft. Die Monographie ist im Berichtsjahr im Wallstein Verlag, Göttingen, erschienen:

Maren Lorenz, Menschenzucht. Frühe Ideen und Strategien 1500–1870, Göttingen 2018

Die Redaktion von L.I.S.A. WISSENSCHAFTSPORTAL GERDA HENKEL STIFTUNG hat mit Prof. Lorenz ein Interview über ihre Forschungsarbeit geführt: