Advokaten der jungen Kunst – Walter Cohen, Walter Müller-Wulckow und
die Vereinigung(en) für junge Kunst

Gloria Köpnick

Walter Müller-Wulckow (Breslau 1886 - 1964 Oldenburg), der Gründungsdirektor des Oldenburger Landesmuseums, muss ein eher spröder Charakter gewesen sein, der zwar gut vernetzt war – wie zum Teil umfangreiche Briefwechsel mit Ernst Ludwig Kirchner, Bernhard Hoetger, Richard Seewald, Walter Gropius, Wilhelm Wagenfeld, Edwin Redslob, Carl Georg Heise und Ernst Gosebruch verdeutlichen – doch sonst scheint Müller-Wulckow sich mehr in Arbeit und Publikationstätigkeiten zurückgezogen zu haben, als dass er ein charismatischer Dandy gewesen wäre. Karl Schmidt-Rottluff nannte ihn einen „verkorxten Kristuskopf“.[1] Engere Freundschaften hat er offenbar kaum gepflegt. Eine der wenigen Ausnahmen bildete der Düsseldorfer Kunsthistoriker Walter Cohen (Bonn 1880 - 1942 KZ Dachau). Ihre Bekanntschaft, die sich mit den Jahren zu einer Freundschaft entwickelte, begann 1918. Der erhaltene Briefwechsel, der die Jahre bis 1930 umfasst, dokumentiert eine Freundschaft, und seine Auswertung verleiht vor allem dem Wirken und Charakter Walter Cohens mehr Kontur, als es der Forschung bislang möglich war. Gleichsam ist er ein Echolot in eine kunsthistorisch faszinierende Epoche, die im Zeichen der „Umgestaltung der Museen im Sinne der neuen Zeit“ (Wilhelm Reinhold Valentiner, 1919) stand. Der Briefwechsel zeigt darüber hinaus überraschende Parallelen zwischen dem Kunstgeschehen im Rheinland und im Oldenburger Land.

 
Abb. 1 Walter Müller-Wulckow, um 1920, Photographie [Bildquelle: Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Nachlass Walter Müller-Wulckow]

Der Weg ins Museum

Walter Müller wurde 1886 in Breslau geboren (Abb. 1). Aufgewachsen in Dresden und Frankfurt am Main, studierte er nach dem Abitur Kunstgeschichte, Archäologie und Philosophie in Heidelberg, Berlin, München und Straßburg. 1911 wurde er bei Georg Dehio mit einer Arbeit über „Die Konstruktion der Bildarchitekturen in der deutschen Graphik des 15. Jahrhunderts“ promoviert.[2] Vom Kriegsdienst befreit, arbeitete er – inzwischen verheiratet und den Doppelnamen Müller-Wulckow tragend – von 1917 bis 1919 als Assistent am Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt. Seit dem Studium war er zudem publizistisch aktiv und berichtete regelmäßig für die Frankfurter Zeitung, Das Kunstblatt sowie für Deutsche Kunst und Dekoration über Kunst und Architektur im Rhein-Main-Gebiet. Bemerkenswert ist hierbei eine sich früh, bereits während des Studiums entwickelnde Leidenschaft für die Kunst der Gegenwart. Ferner war er Mitglied im Deutschen Werkbund und im Bund Deutscher Architekten (BDA). Als Walter Müller-Wulckow 1921 zum Gründungsdirektor des Landesmuseum Oldenburg berufen wurde, trat er die Wirkungsstätte seines restlichen Berufslebens an.

 
Abb. 2 Walter Cohen, um 1930, Photographie [Bildquelle: Bildzitat aus: Sitt, Martina, Auch ein Bild braucht einen Anwalt. Walter Cohen – Leben zwischen Kunst und Recht, München / Berlin 1994, S. 59]

Die biographischen Parallelen zum sechs Jahre älteren Walter Cohen (Abb. 2), der 1880 in Bonn geboren wurde, nehmen hier erste Kontur an: Der aus einer Großfamilie stammende Cohen – zwei seiner älteren Brüder betrieben eine Kunst- und Buchhandlung in Bonn – nahm nach dem Abitur das Studium der Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie und Philosophie in seiner Heimatstadt auf. Es folgten Stationen an den Universitäten in München und Berlin. Wie Müller-Wulckow wurde auch Cohen bei Georg Dehio in Straßburg promoviert.[3] Nach Beendigung des Studiums folgte eine längere Auslandsreise und eine Beschäftigung in der Redaktion des von Ulrich Thieme und Felix Becker herausgegebenen Künstlerlexikons in Leipzig.[4] Sein weiterer Weg führte auch Cohen ins Museum: In Berlin absolvierte er ein Volontariat an den Staatlichen Museen – respektive dem Kaiser-Friedrich-Museum und dem Kunstgewerbemuseum – und nahm 1908 eine Stelle als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter am Provinzialmuseum Bonn an, wo er zum Direktorial-Assistenten aufstieg. Hier knüpfte Cohen prägende Kontakte zu zeitgenössischen Künstlern wie dem Maler August Macke. Elisabeth Erdmann-Macke beschrieb den jungen Cohen als einen feinsinnigen „Kunsthistoriker, dessen Ressort dort die mittelalterliche Kunst war, der sich aber Zeit seines Lebens glühend für die moderne Kunst und die Künstler begeisterte und jederzeit mutig dafür einsetzte.“[5] Im Zuge der Vorbereitung der „Sonderbundausstellung“ in Köln knüpfte Cohen Kontakte zu den führenden Vorkämpfern der Moderne, wie Ernst Gosebruch, Fritz Wichert, Karl Ernst Osthaus, Alfred Hagelstange und Richart Reiche. 1914 wechselte Cohen an die Städtische Kunstsammlung Düsseldorf, wo er 1920 zum Kustos der Gemäldesammlung ernannt wurde.

 

Advokaten der jungen Kunst in jeder Hinsicht – Publikationen, Kunstsammlungen und Vereinsgründungen

Der erste Kontakt der beiden Kunsthistoriker entstand dank der Vermittlung Ernst Gosebruchs, dem Leiter des Städtischen Kunstmuseums in Essen: „Am 1. Januar [1919] übernehme ich höchstwahrscheinlich die Redaktion der ‚Rheinlande’ (W. Schäfer behält nur die Literatur) u. möchte in dieser recht reformbedürftigen Zeitschrift den Privatsammlungen im Verbandsgebiete besondere Aufmerksamkeit zuwenden, rechne aber auch ganz allgemein gerade auf Ihre Mitarbeit“, kontaktierte Cohen Müller-Wulckow im Oktober 1918 (Abb. 3).[6] Die Kontaktaufnahme hatte Erfolg: Cohen gewann den Frankfurter Kunsthistoriker für die Mitarbeit und in den folgenden Jahren berichtete dieser auch hier vielfach über das Kunstgeschehen im Rhein-Main-Gebiet. Müller-Wulckows erster Aufsatz für Die Rheinlande, der im Herbst 1919 erschien, widmete sich dem Darmstädter Bildhauer Adam Antes.[7]

 
Abb. 3 Walter Cohen an Walter Müller-Wulckow, Brief v. 6. Oktober 1918 [Bildquelle: Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Nachlass Walter Müller-Wulckow]

Offenbar waren sich Cohen und Müller-Wulckow schnell sympathisch. Besuche und Treffen lassen sich anhand der erhaltenen Korrespondenz und Taschenkalender nachvollziehen und so verwundert es kaum, dass Cohen dem Frankfurter Kollegen auch bald Persönliches mitteilte, wie eine Photographie von dessen Hochzeit veranschaulicht, „die heimtückisch gemacht wurde, als wir in Bochum die Kirche verliessen.“[8] Auch von der Totgeburt, die Cohens Frau im Herbst 1924 erlitt, berichtete er Müller-Wulckow, der seinerseits das Familienleben mit Sohn Wolfgang schilderte.[9] Cohens Briefe sind in einem ebenso eloquenten wie unterhaltsamen, zum Teil recht scharfzüngigen Stil formuliert: „Täglich stapfe ich viermal durch den hohen Schnee des Hofgartens, im Sport-Dress, was sicher die dort wohnenden Eichhörnchen, von den Lästeralleewanderern ganz zu schweigen, zum Lachen bringt.“[10] Müller-Wulckows Interesse für zeitgenössische Architektur entsprechend – er publizierte in der Reihe der ‚Blauen Bücher’ vier erfolgreiche Bände – sandte Cohen dem Freund verschmitzt kommentierte Postkarten; etwa eine Ansicht der Düsseldorfer Tonhalle, die er als „Niederrhein: Moschee!“[11] titulierte oder „orgelnde Architektur“ aus Kopenhagen (Abb. 4 und 5).[12]

 
Abb. 4 Walter Cohen an Walter Müller-Wulckow, Postkarte v. 15. Juni 1926 [Bildquelle: Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Nachlass Walter Müller-Wulckow]
Abb. 5 Walter Cohen an Walter Müller-Wulckow, Postkarte v. 22. August 1929 [Bildquelle: Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Nachlass Walter Müller-Wulckow]

Beiden Kunsthistorikern war auch die Kritik an den ‚Alten’ gemein: Cohen hatte während seines Volontariats für den „great old man“ Wilhelm von Bode an den Staatlichen Museen gearbeitet und formulierte einige spitze Bemerkungen anlässlich des Besuchs der Trauerfeier 1929. Als ihn Max J. Friedländer – den er ebenfalls in Berlin kennengelernt hatte – 1928 in Düsseldorf besuchte, schrieb er an Müller-Wulckow: Dieser sei „recht gnädig [gewesen], aber doch wie alle diese Nichts-als-Kenner fremdartig für uns Jüngere. Er war auch recht entsetzt über die Bilder in meiner Wohnung. Kein Lieber Mann, aber sogar ein grosses Bildes des Surrealisten Max Ernst!“[13]

 

Der Briefwechsel ist darüber hinaus ein politischer Zeitspiegel, in Düsseldorf anfangs bestimmt von der Besetzung des Rheinlandes oder in Köln von den kulturpolitischen Machtkämpfen des Oberbürgermeisters Konrad Adenauer mit dem Direktor des Kölner Museums Hans Friedrich Secker. Oldenburg hingegen war geprägt vom zähen Aufbruch einer verschlafenen ehemaligen Residenzstadt in die Moderne.

 

Auch über die eigenen beruflichen Pläne, Wünsche und Möglichkeiten tauschten sich die beiden Männer aus, die doch eigentlich Konkurrenten hätten sein müssen. So gratulierte Cohen anlässlich der Berufung nach Oldenburg: „Ich freue mich aufrichtig für Sie, aber auch für die ehemalige Residenzstadt. Jungfräulicher Boden! Ich kenne ihn vom Besuche der Galerie alter Meister her, die greulich gehängt war u. einen verstaubten Eindruck machte. Von Herzen: Glückauf!“[14] Im selben Brief berichtete Cohen von seiner Beförderung zum Kustos in Düsseldorf. In ihrer leitenden Funktion empfahlen sie einander mehrfach talentierte Assistenzkräfte.

 

Faszinierend ist hierbei, dass sowohl Müller-Wulckow als auch Cohen den Spagat zwischen alter und junger Kunst zuwege bringen mussten – und beide dabei erfolgreich waren: So hatte Müller-Wulckow in Oldenburg die Reste der Großherzoglichen Gemäldegalerie unter seinen Fittichen, die er im Schloss neu zu präsentieren suchte, während er gleichzeitig die Sammlung um eine „Moderne Galerie“ mit Werken der Brücke-Maler erweiterte (Abb. 6). Cohen hingegen war als Kustos für die Sammlung der Werke des 19. Jahrhunderts verantwortlich und engagierte sich ebenfalls für Erwerbungen der jungen Kunst. Ab Ende der 1920er-Jahre war der Umzug des Düsseldorfer Museums in das neue Gebäude am Ehrenhof eine seiner wichtigsten Aufgaben. Auch der Kontakt zwischen Müller-Wulckow und dem Düsseldorfer Galeristen Julius Stern entstand dank der Vermittlung Cohens. Hieraus ging u.a. der Erwerb eines Gemäldes von Lovis Corinth („Karussell“, 1903) für Oldenburg hervor. Der Verkauf des Gemäldes „Noahs Dankopfer“ (um 1575/80) von Jacopo da Ponte (gen. Bassano) an den in Buenos Aires lebenden Unternehmer und Kunstsammler Bruno John Wassermann war ebenfalls Cohens Vermittlung zu verdanken. Überhaupt waren die kunsthändlerischen Beziehungen zwischen Oldenburg und Düsseldorf vielfältig: Erwerbungen des Landesmuseums bei der Galerie von Alfred Flechtheim gehörten ebenso dazu, wie Ankäufe aus der Galerie von Karl Nierendorf.

 
Abb. 6 Die Moderne Galerie im Landesmuseum mit Gemälden von Erich Heckel (Dangaster Landschaft), Karl Schmidt-Rottluff (Die gelbe Öljacke und Kühe am Deich), Emma Ritter (Ziegelei), Ernst Ludwig Kirchner (Bube mit Bonbons) und Franz Radziwill (Deich mit Hecks), um 1930, Photographie [Bildquelle: Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg]

Neben Publikationsvorhaben, die Cohen und Müller-Wulckow einander vermittelten, und Ausstellungen – wie der großen Jubiläumsausstellung 1925 in Düsseldorf oder die Rohlfs-Ausstellung 1925 in Oldenburg – berichteten sie einander von eindrücklichen Dienstreisen, Auktionsbesuchen sowie ‚Tratsch und Klatsch’ aus der Museumsszene: „Koetschau will fort von hier u. ganz heraus aus dem Museumsdienst“ – berichtete Cohen Müller-Wulckow im Vertrauen.[15] Über den von Richart Reiche in Barmen gegründeten Kunstbund urteilte Cohen scharf, dieser sei „von Anfang an ein totgeborenes Kind“ gewesen und „nach einigen lachhaften Versuchen eingeschlafen.“[16] Die Korrespondenz offenbart hierbei ein engmaschiges Netzwerk von Akteuren.

 

Beide Kunsthistoriker besaßen eigene Sammlungen: Ausgestattet durch das großzügige Erbe seines Vaters hatte Müller-Wulckow eine umfangreiche Sammlung mit herausragenden Werken der Brücke-Expressionisten erworben, über die Kasimir Edschmid rückblickend bemerkte, dass Müller-Wulckow ein Sammler mit Scharfblick gewesen sei, „der schon während des Krieges Kirchner, Nolde und seine Freunde“ gekauft habe.[17] Doch auch Arbeiten von Christian Rohlfs, August Babberger und Richard Seewald zählten zu seiner Kollektion. Anschaulich wird dies vor allem in Photographien von Müller-Wulckows Frankfurter Wohnung (Abb. 7). Als das Landesmuseum 1991 den Nachlass des Gründungsdirektors übernahm, gelangten auch Teile seiner Kunstsammlung in den Besitz des Museums.

 
Abb. 7 Die Wohnung Walter Müller-Wulckows in Frankfurt am Main mit Ernst Ludwig Kirchners Marcella (1909/10, heute Moderna Museet Stockholm) und Erich Heckels Bildnis Heinrich Nauen (1914, zerstört) sowie Werken von Christian Rohlfs und Sissy Brentano, Photographie, um 1919 [Bildquelle: Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Nachlass Walter Müller-Wulckow]

Die Rekonstruktion der Sammlung Walter Cohens erweist sich hingegen als wesentlich komplizierter. Seine einst umfangreiche Sammlung von Kunst der Avantgarde und älterer Meister ist heute in alle Winde verstreut. Nach seinem Tod versuchten zwar Cohens geschiedene Frau, die Malerin Margret Umbach (1892–1960) und deren zweiter Mann, Richard Vogts (1906–1984), die Sammlung wiederaufzubauen, doch orientierten sich deren Ankäufe eher an dem Erwerb der seiner Zeit in der Cohen-Sammlung vertretenen Künstler per se, denn am Rückerwerb konkreter Werke. Hinweise auf einzelne eindeutig identifizierbare Werke sind in der verdienstvollen Cohen-Monographie enthalten, die Martina Sitt 1994 verfasste.[18] Der Briefwechsel mit Müller-Wulckow erlaubt nun weitere Hinweise: „Und dann müssen Sie u. a. das Bildnis beurteilen, das Otto Dix von mir gemacht hat“, heißt es etwa im Februar 1924.[19] Im selben Monat bemerkt er in einem anderen Schreiben: „Papa Rohlfs, den ich am Sonntag in Hagen aufsuchte, hat eine nette Karikatur von mir gemacht, mit der Unterschrift: ‚Cohen wird zu dick.’ Er lässt Sie vielmals grüssen!“[20] oder: „Ich besitze jetzt 2 herrliche Bilder von Franz Marc; der neueste Zuwachs sind die „Katzen“, die ich mir in der Essener Liquidation der F.D.K. sicherte, zudem ein grosser Otto Müller.“[21]

 

Beide Kunsthistoriker verband zudem ihr Wirken in nicht-musealen Verbindungen zur Förderung zeitgenössischer Kunst. So hatte Walter Cohen 1915 die Neusser Gesellschaft zur Förderung Deutscher Kunst des 20. Jahrhunderts mitbegründet und 1918 im Kölnischen Kunstverein die Ausstellung mit dem Titel „Junges Rheinland“ organisiert. Ein Jahr später wurde in Düsseldorf die gleichnamige Künstlervereinigung gegründet.

 

Müller-Wulckow war Mitbegründer des Frankfurter Arbeitsrats für kulturelle Angelegenheiten und initiierte 1917 die Gründung der Vereinigung für Neue Kunst in Frankfurt , ein progressiver Kunstverein, der jedoch nur für wenige Jahre Bestand hatte. In Oldenburg suchte Müller-Wulckow – nun jedoch mit den Museumsbelangen gut ausgelastet – an das Streben des Frankfurter Vereins anzuknüpfen. Im Kampf um die Moderne traten schließlich der kunstbegeisterte Oldenburger Jurist Ernst Beyersdorff und die von diesem gegründete Vereinigung für junge Kunst an Müller-Wulckows Seite.

 

Vereinigung für junge Kunst Oldenburg 1922–1933

Nach dem Ende der Monarchie waren im neugegründeten Freistaat Oldenburg die Weichen in Richtung Zukunft gestellt worden. Institutionell war dies mit der Umbenennung des Hoftheaters in Landestheater sowie der Gründung des Landesmuseums einhergegangen. Auch wenn Müller-Wulckow ein zukunftsorientiertes Programm gestalten wollte, musste er Konzessionen im Hinblick auf die Interessen des Freistaats eingehen. Ankäufe – insbesondere von Werken der modernen Kunst – bedurften der Freigabe durch die Museumskommission. Ferner war die Entwicklung im örtlichen Kunstverein zum Erliegen gekommen – dort konzentrierte man sich 1919 noch immer auf die Kunst der deutschen Impressionisten und der regionalen Landschaftsmaler. In diesen Stillstand stieß 1922 die Gründung der Oldenburger Vereinigung für junge Kunst herein. Müller-Wulckow brachte seine Erfahrung mit dem Kunstverein aus Frankfurt mit und bekräftigte damit den kunstsinnigen Juristen Ernst Beyersdorff in dem Vorhaben der Gründung eines Kunstvereins der Moderne. Ihm gelangen ab 1922 bedeutende Veranstaltungen und Ausstellungen des zeitgenössischen Kunstschaffens in Oldenburg, wobei Müller-Wulckow Beyersdorff beratend zur Seite stand, sich aber sonst aus den Geschäften raushielt. Im Sinne einer „Synthese der Kunst“ (Henry van de Velde) avancierte die Oldenburger Vereinigung mit ihrem vielseitigen Veranstaltungsprogramm zu einer treibenden Kraft für die Vermittlung der künstlerischen Avantgarde während der Weimarer Republik (Abb. 8 und 9): Tanzgastspiele mit Mary Wigman, Tatjana Barbakoff, Harald Kreutzberg und Gret Palucca, Konzertabende mit dem Amar-Quartett, Eduard Erdmann, Walter Gieseking und Paul Hindemith, Autorenlesungen mit Else Lasker-Schüler, Bertolt Brecht, Franz Werfel, Alfred Döblin, Erich Kästner und Gottfried Benn sowie bedeutende Einzel- und Gruppenausstellungen zur zeitgenössischen Kunst und Architektur, welche von rahmenden Vorträgen begleitet wurden, begeisterten nicht nur das Publikum, sondern zeugen von einer Zeitgenossenschaft ersten Ranges. Ein enges Netzwerk zu befreundeten Vereinen und Museen sowie zu privaten Förderern, Künstlern, Händlern, Kritikern, Verlegern und Publizisten ermöglichte es, die Kunst und Kultur der Zwanziger Jahre in allen Facetten zu präsentieren und dem Publikum zu vermitteln. Die Vereinigung, deren Aktivitäten mit denen der Kestnergesellschaft in Hannover vergleichbar sind, beteiligte sich darüber hinaus mit Diskussionsrunden und Arbeitsgruppen am kulturpolitischen Zeitgeschehen.

Abb. 8 Eintrag von Gret Palucca im Gästebuch Beyersdorff, Februar 1932 [Bildquelle: Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Inv. Nr. 29.299]
Abb. 9 Winterprogramm der Vereinigung für junge Kunst, 1926/27 [Bildquelle: Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Archiv Vereinigung für junge Kunst]
 

Beteiligungen von Künstlern des Jungen Rheinland an Ausstellungen der Vereinigung für junge Kunst Oldenburg

Nicht zuletzt dadurch, dass rund 400 Künstlerinnen und Künstler Mitglieder des Jungen Rheinland waren, verwundert es kaum, dass verschiedene von ihnen auch an Ausstellungen der Vereinigung für junge Kunst in Oldenburg beteiligt waren. Zumeist waren dies Künstler mit überregionaler Strahlkraft: So veranstaltete die Vereinigung für junge Kunst 1927 eine Einzelausstellung mit Werken von Otto Dix. Die hier gezeigten Arbeiten lassen sich größtenteils identifizieren, wie das Portrait von Adolf Uzarski. Aufsehen erregte die Schau allemal: „Frl. Müller fragen, ob [es ihr] angenehm [ist, die] Kasse bei Dix [zu übernehmen,] wegen möglicher Radauscenen“ – notierte sich Beyersdorff schon im Vorfeld.[22] Eine Einzelausstellung widmete die Vereinigung für junge Kunst 1927 auch Christian Rohlfs. Neuste Werke von Gustav Heinrich Wolff waren 1926 in einer Doppelausstellung mit Karl Schmidt-Rottluff gezeigt worden.

 

An der Gruppenausstellung „Malerei unserer Zeit“ (1929,) waren Jankel Adler und Heinrich Hoerle beteiligt, deren Werke von der Kölner Galerie Becker & Newman eingeliefert wurden. Ebenso wie Gert H. Wollheim war auch Otto Pankok, der sein Ausstellungs-Debüt 1913 in Oldenburg gegeben hatte, in dieser Schau vertreten. Der Gründer des Oldenburger Vereins, Ernst Beyersdorff, erwarb mehrere Werke des Künstlers für seine private Sammlung.

 

Hein Heckroth war 1930 an der Überblicksschau der Vereinigung für junge Kunst zum zeitgenössischen Bühnenbild beteiligt, wo seine Werke neben denen von George Grosz (Berlin), Cesar Klein (Berlin), Oskar Schlemmer (Breslau) und László Moholy-Nagy (Berlin) gezeigt wurden. Indes waren Max Ernst mit einer Reihe von Lithographien und Anton Räderscheidt 1932 mit mehreren Aquarellen in der Ausstellung „Das Gesicht der Graphik“ vertreten.

 

Bemerkenswert ist auch der Bezug von Walter Giskes zur Stadt Oldenburg: Von 1924 bis 1927 war er als Bühnenbilder am Landestheater Oldenburg tätig. 1926 beteiligte er sich an der Ausgestaltung des Tanzsaals des ersten Kostümfests der Vereinigung für junge Kunst, das im März unter dem Motto „Novo Duda. Die große Filmstadt“ veranstaltet wurde. Ein Jahr später siedelte Giskes nach Dortmund über. Ein Sonderfall ist die Bauhäuslerin Margarete Willers. Sie ist die einzige gebürtige Oldenburgerin, deren Mitgliedschaft in der Künstlervereinigung Das Junge Rheinland bekannt ist.

 

Während die Vereinigung für junge Kunst in der 50.000-Einwohner Stadt Oldenburg nicht so sehr mit dem Standort in der Provinz zu kämpfen hatte, fehlte es hier vor allem an Industriellen und Großindustriellen mit der entsprechenden Kaufkraft und Förderinitiative. Hierin unterscheidet sich Oldenburg nicht nur vom Rheinland, sondern auch von anderen vergleichbaren Standorten wie Jena, Braunschweig oder Hannover. Dennoch ist dem Oldenburger Verein und der Künstlergemeinschaft Das Junge Rheinland einiges gemeinsam: So wurden beide in der jungen Weimarer Republik gegründet – und mit ihrem Ende aufgelöst. In ihrem Einsatz für die Kunst der Zeitgenossen verband beide eine gattungsübergreifende Offenheit, wobei der Oldenburger Verein 1922 als dezidiert unpolitisch gegründet worden war. Ausgestellt und gezeigt werden sollten Werke allein aufgrund der künstlerischen Qualität.

 

Vereinigung für junge Kunst Düsseldorf

Inspiriert von Oldenburg gründeten Walter Cohen, Walter Kaesbach, der in diesem Jahr vom Museum in Erfurt an die Kunstakademie Düsseldorf gewechselt war, und Regierungsrat Max Niehaus 1924 eine gleichnamige Vereinigung für junge Kunst in Düsseldorf (Abb. 10):

„Lesen Sie Programm und Statuten und Sie werden finden, dass wir vieles anstreben, was Sie in Frkfrt. u. Oldenburg anstrebten. Wir sind immer bereit, uns für noch unbekannte Künstler einzusetzen, wenn wir ihrer Begabung sicher sind. Nur keine Versteinerung! Flechtheim u.a. wüten natürlich, aber das ist ein gutes Zeichen!“[23]

 
Abb. 10 Walter Cohen an Walter Müller-Wulckow, Brief v. 22. Mai 1924 [Bildquelle: Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Nachlass Walter Müller-Wulckow]

In der kunsthistorischen Forschung ist die Aufarbeitung der Düsseldorfer Vereinigung noch immer ein Desiderat, wenngleich Jenny Mues den Versuch unternommen hat, ihre Geschichte rudimentär zu beschreiben.[24] Die Angaben können hinsichtlich der Gründung präzisiert werden, denn die Korrespondenz mit Müller-Wulckow – auf dem Briefpapier der Vereinigung – belegt, dass diese bereits im Mai 1924 vollzogen war. Im Gegensatz zu dem der Oldenburger war das Programm der Düsseldorfer Vereinigung auf die Ausrichtung von Kunstausstellungen begrenzt. Der Briefwechsel sowie zeitgenössische Veröffentlichungen in den Düsseldorfer Lokal-Nachrichten zeichnen ein anschauliches Bild. Die erste Schau fand demnach im Frühjahr 1925 im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen statt, wobei u.a. Werke von Christian Rohlfs, August Macke, Franz Marc und Otto Dix gezeigt wurden. In der Presse wurde die Ausstellung anerkennend besprochen: „man gesteht gern: Sicherheit des Urteils, Findigkeit, Geschmack, Verständnis für alle Erscheinungen und Absichten unserer jungen Kunst haben eine Ausstellung lebendiger Wirkungskraft, voller Anregungen und Genüsse, zusammengebracht.“[25]

 

Die zweite Präsentation mit dem Titel „Ausstellung junger Kunst aus Rheinland und Westfalen“ fand im November 1926 in Essen statt (Abb. 11). Zeitungsrezensionen belegen neuerlich den Fokus auf Künstler der Region – zum größten Teil handelte es sich um Mitglieder des Jungen Rheinland, wie Carl Bessenich, Arno Breker, Heinrich Maria Davringhausen, Adolf de Haer, Josef Enseling, Fritz Feigler, Kurt Lahs, Fitz Lewy, Helmuth Macke, Heinrich Nauen, Walter Ophey, Otto Pankok, Heinrich Patt, Ewald Platte, Robert Pudlich, Ernst Schumacher-Salig, Alfred und Karli Sohn-Rethel, Peter Stermann, Ludwig Ten Hompel und Eberhard Viegener.[26] Anfang 1927 wanderte die Schau nach Düsseldorf, wo sie in der Städtischen Kunsthalle gezeigt wurde und einen Rezensent zu dem Kommentar inspirierte: „Man taumelt durch Fülle, man pendelt durch das Wirrwarr eines wuchernden Gartens“.[27] Eine weitere Ausstellung fand im Mai 1930 in der Städtischen Kunsthalle Düsseldorf statt, zu der sich das seltene Katalogheft im Nachlass von Müller-Wulckow erhalten hat, der sowohl in der Oldenburger, als auch in der Düsseldorfer Vereinigung Mitglied war. Die letzte Ausstellung widmete die Vereinigung für junge Kunst Düsseldorf von Mai bis Juni 1932 der „Kunst der Gegenwart aus Düsseldorfer Privatbesitz“. Sie fand in den Räumen des Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen statt. Vier Jahresgaben der Düsseldorfer Vereinigung für junge Kunst (druckgraphische Blätter von Carl Grossberg, Richard Herber, Renée Sintenis und Heinrich Nauen) befinden sich heute im Bestand des Landesmuseums Oldenburg (Abb. 12).

Abb. 11 Vereinigung für junge Kunst Düsseldorf, Katalogheft der „Ausstellung junger Kunst aus Rheinland und Westfalen“, Essen 1926 [Bildquelle: Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Nachlass Walter Müller-Wulckow]
Abb. 12 Carl Grossberg, „Verkehrsecke (Düsseldorf, Straßenansicht)“, 1927, Lithographie, 39,3 × 27,6 cm (Bild), 53,4 × 38,2 cm (Blatt) Erworben 1927 als Jahresgabe der Vereinigung für junge Kunst, Düsseldorf [Bildquelle: Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Inv. Nr. 8.255]
 

Zeitenwende 1933

Cohens Einladung zur Feier seines 50. Geburtstags 1930 – von der sich eine Photographie (Abb. 13) erhalten hat – konnte Müller-Wulckow nicht nachkommen. Der Düsseldorfer – dankend für die Glückwünsche – berichtete ihm jedoch von den Feierlichkeiten: „Man hat mich unglaublich verwöhnt, auch mit Geschenken, unter den sich Ölbilder von Klee, der Modersohn, Jawlensky, Bretz befinden.“[28] – Diesem Schreiben folgen nur noch wenige Mitteilungen, dann endet der Briefwechsel abrupt. Eine neue Zeit bricht an.

 
Abb. 13 Feier zum 50. Geburtstag von Walter Cohen (Mitte), 18. Januar 1930 [Bildquelle: Bildzitat aus: Sitt, Martina, Auch ein Bild braucht einen Anwalt. Walter Cohen – Leben zwischen Kunst und Recht, München / Berlin 1994, S. 43]

Die nationalsozialistische Diktatur bedeutete das berufliche Ende für Walter Cohen und dessen engagierten Einsatz für die Moderne. Obwohl er getauft und protestantisch erzogen worden war, wurde er als Jude diffamiert. Seine Entlassung 1933 im Rahmen des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums war mit beruflicher und persönlicher Diskriminierung verbunden. Von einem 1937 erlittenen Schlaganfall erholte er sich nur langsam. Parallel zu seiner erzwungenen Scheidung, wurde 1941 ein Gerichtsprozess gegen Cohen eröffnet, in dessen Zentrum Cohens Kunstexpertisen standen. Im Juli 1942 starb Walter Cohen im KZ Dachau.

 

Auch für die Vereinigung für junge Kunst in Oldenburg bedeutete die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten das Ende. Im Frühjahr 1933 löste der Vorstand den Verein auf und beendete damit nach elfjähriger Tätigkeit den Einsatz für „das Schaffen der Lebenden“, wie es 1922 in der Satzung gefordert worden war. Damit war die Löschung aus dem Vereinsregister verbunden. Das Ende der gleichnamigen Düsseldorfer Vereinigung bleibt hingegen unklar.

 

Als 1937 im Landesmuseum 103 Werke moderner Kunst konfisziert wurden, waren die Jahresgaben der Vereinigung für junge Kunst Düsseldorf von dieser Sammelaktion nicht betroffen. Indes wurde Christian Rohlfs 1928 erworbenes Gemälde „Tanzversuch“ (Abb. 14) beschlagnahmt und auf der Wanderschau „Entartete Kunst“ im Düsseldorfer Kunstpalast zur Schau gestellt.

 
Abb. 14 Christian Rohlfs, Tanzversuch, 1925, Öl auf Leinwand, 100,5 × 81 cm [Bildquelle: Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg, Inv. Nr. 19.260; Erworben 1928 beim Künstler aus der Ausstellung „Christian Rohlfs“ der Vereinigung für junge Kunst]

Müller-Wulckows weiterer beruflicher Weg sollte ambivalent bleiben: Obwohl er bei der Feme-Schau „Entartete Kunst“ als „Kritiker der Systemzeit“ gebrandmarkt worden war, konnte Müller-Wulckow – im Gegensatz zu vielen Kollegen – über die NS-Zeit hinaus im Amt bleiben. Erst 1951 – nach 30 Jahren als Direktor des Landesmuseums – wurde er in den Ruhestand versetzt.