Vergessen? Die Ausstellungspraxis zur Künstlergruppe Das Junge Rheinland nach 1945

Kay Heymer

Das Ende der Künstlergruppe Das Junge Rheinland war gewaltsam, schrieb Ulrich Krempel in der Einleitung seines Textes zum Katalog der großen Ausstellung „Am Anfang. Das Junge Rheinland“ und wies die Ursache dafür der Diktatur des NS-Regimes zu: „Vom Anfang zum Ende: In der Vereinzelung der Individuen endet die Geschichte dessen, was als ‚Junges Rheinland‘ Vereinzelung überwand und Gemeinsamkeiten herstellte. Die Agonie der Künstler im Faschismus wurde zum Abgesang auf eine große Idee“.[1] Die komplexe und von Streitigkeiten und Widersprüchen gekennzeichnete Geschichte dieser Gruppierung trug ihr letztendliches Scheitern vielleicht schon in sich, aber Krempel hat mit seiner Feststellung dennoch völlig recht, denn das Junge Rheinland war ein prägender Teil der avantgardistischen Kunstentwicklung in den 1920er Jahren in Deutschland, und die kulturelle Barbarei der Nationalsozialisten wollte dem ein Ende setzen. Die wichtigsten Künstlerinnen und Künstler des Jungen Rheinland fielen unter ihr Verdikt der angeblichen „Entartung“, ihre Werke wurden aus öffentlichen Sammlungen entfernt, sie selbst wurden mit Malverboten belegt, verfolgt, verfemt und ermordet. Der Kampf dieser Künstlergeneration sollte nicht vergessen werden.

 

Das Junge Rheinland war eine Sammlungsbewegung, mit der die Gründer um den Dichter Herbert Eulenberg und die Maler Arthur Kaufmann und Adolf Uzarski engagierte und größtenteils junge rheinische Künstlerinnen und Künstler unterschiedlichster Stilrichtungen und Gattungen zusammenbringen wollten. Die programmatische Offenheit sowie die heterogenen politischen Ansichten ihrer Mitglieder machten die Gruppe von Beginn an zu einem fragilen Gebilde, und seine Geschichte ist geprägt von fortwährenden Spannungen zwischen Individualismen und großen Ideen. Es ist nie gelungen, das Junge Rheinland mit einer kurz gefassten, klaren Identität zu beschreiben, in der alles Wesentliche gesagt war, ihr ein „Alleinstellungsmerkmal“ oder einen „Markenkern“ gegeben war, anhand dessen sie leicht identifizierbar sein konnte. Die Ablehnung der meisten Formen gegenstandsloser Kunst in dieser Gruppe ist ein negatives Definitionsmerkmal, dem sich eigentlich kein positives gegenüberstellen ließe, denn vom Spätimpressionismus bis zum Surrealismus waren nahezu alle „Ismen“ dieser Zeit vertreten. Das Junge Rheinland war ein Zweckbündnis, das kaum über stilistische Merkmale der Werke seiner Mitglieder zu definieren war, im Vordergrund stand die Schaffung einer Plattform für gemeinsame Sichtbarkeit. Die Verschiedenheit der Mitglieder wurde nicht nur von allen respektiert, sondern geradezu zelebriert, und wohl in kaum einer anderen Gruppierung wurden derart viele Porträts geschaffen, mit denen sich die Künstlerinnen und Künstler ihrer Individualität versicherten.[2] Diese Gruppe streitbarer Individualisten bestimmte während einer kurzen Phase zwischen 1919 und 1925 das Kunstleben in Düsseldorf und Umgebung und begann spätestens seit 1923, sich in internen Streitigkeiten zu zerlegen und schließlich aufzulösen. Die kurze Lebensdauer der Zeitschrift Das Junge Rheinland steht symptomatisch für die starke autodestruktive Tendenz der Gruppe. Die Gemeinsamkeiten traten in den Hintergrund, und die Vereinzelung der Individuen fand schon statt, bevor der Faschismus seine zerstörerische Kraft entfaltete.

 

In den unmittelbaren Nachkriegsjahren unterstützte Werner Doede als Direktor der Düsseldorfer Kunstsammlungen einzelnen Künstler, die Mitglieder im Jungen Rheinland gewesen waren – so erwarb er etwa schon 1947 zahlreiche Graphiken und Arbeiten auf Papier von Adolf Uzarski, und zwar nicht allein dessen eigene Werke, sondern auch Arbeiten anderer Künstler aus dessen Sammlung, und er kaufte auch weiterhin Arbeiten von Carl Lauterbach an. In seinen Ausstellungen der Nachkriegsjahre wurden viele Düsseldorfer Künstler berücksichtigt, es wurde aber kein direkter Bezug auf die Gruppe Das Junge Rheinland genommen. Einige Einzelausstellungen ehemaliger Mitglieder des Jungen Rheinland fanden statt – Wilhelm Morgner (1947), Wilhelm Lehmbruck (1949), Heinrich Nauen (1949), Julo Levin (1950), Fritz Feigler (1950), Adolf Uzarski (1950), Bernhard Sopher (1951), Paul Bindel (1952), Wilhelm Kreis (1953), Walter Ophey (1956 und 1962), Otto Dix (1960 und 1966) und Gert H. Wollheim (1962), doch wurden diese Projekte nicht ausdrücklich als Aspekte der Darstellung der Geschichte des Jungen Rheinland durchgeführt, sondern standen eher im allgemeineren Kontext der Düsseldorfer Kunstgeschichte.

 
Abb. 1 Ausstellungskatalog Avantgarde gestern, Städtische Kunsthalle Düsseldorf.

Überregionales Interesse an der Künstlergruppe ist in den ersten 25 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg nicht erkennbar. Erst 1970 wurde eine Ausstellung in Düsseldorf organisiert, mit der die Geschichte der Künstlergruppe erzählt werden sollte. Avantgarde gestern – Das Junge Rheinland und seine Freunde 1919-1929 (Abb. 1) setzte den Schlusspunkt der Geschichte in das Jahr 1929. Irene Markowitz bilanzierte: „Die Bedeutung der Vereinigung lag im Zusammenschluss der vielen fortschrittlichen Künstler und der dynamischen Kraft, mit der sie in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg der modernen Kunst nicht nur in Düsseldorf zum Durchbruch verhalf und junge Künstler und Laien auf lebendiges Kunstschaffen hinwies.

 

Durch das Junge Rheinland war Düsseldorf für wenige Jahre – neben Berlin – ein bewegtes Zentrum der modernen Kunst.“[3] Die Ausstellung präsentierte eine Anzahl wichtiger Werke von Künstlerinnen und Künstlern des Jungen Rheinland, ohne allerdings die komplexen Zusammenhänge und Widersprüche innerhalb dieser Gruppierung deutlich zu machen – die im Katalog abgedruckten Erinnerungen des Malers Arthur Kaufmann boten viele anekdotische Details, vermittelten jedoch keinen Überblick über die ganze Vielfalt. Der Fokus lag in der Ausstellung auf Malerei und Arbeiten auf Papier, die zahlreichen anderen Gattungen – Literatur, Bühnenbild, Architektur, Skulptur u. a. kamen kaum vor. Die Ausstellung wurde auch im Berliner Haus am Waldsee präsentiert (Abb. 2),[4] blieb in ihrer Wirkung aber überschaubar. Die Geschichte des Jungen Rheinland blieb somit in der Folge auch in großen Überblicksdarstellungen wie etwa der monumentalen Präsentation „Tendenzen der 20er Jahre“ 1977 in der Neuen Nationalgalerie zu Berlin allenfalls eine Randnotiz.[5]

 
Abb. 3 Ausstellungskatalog Am Anfang Das Junge Rheinland, Städtische Kunsthalle Düsseldorf [© Nachlass Gert H. Wollheim - Jutta Osterhof]

Ab den späten 1970er Jahren setzte im Stadtmuseum Düsseldorf eine systematische Erforschung der Künstlerinnen und Künstler des Jungen Rheinland ein, und ab 1980 erschienen zahlreiche monographische Publikationen zu Hanns Kralik, Matthias Barz, Julo Levin, Lorenz Bösken, Carl Lauterbach, Trude Brück, Peter Ludwigs, Tatjana Barbakoff, Franz Monjau, Karl Schweig, Gert H. Wollheim und zahlreichen anderen. Im Jahr 1980 begannen Peter Barth und Herbert Remmert in ihrer neu gegründeten Galerie damit, die Düsseldorfer Kunstszene der 1920er Jahre intensiv zu erforschen. Als Sohn des Malers Carl Barth, einem Mitglied des Jungen Rheinland, hatte Barth beste Voraussetzungen, um sich mit diesem bislang nicht systematisch erforschten Gebiet auseinanderzusetzen, und mit den Publikationen der Galerie Remmert und Barth war nun neben den Aktivitäten des Düsseldorfer Stadtmuseums eine wesentliche neue Quelle vorhanden, die entscheidende Beiträge zur Geschichte ergänzen konnte: 1985 mündete diese in die umfangreiche Ausstellung „Am Anfang. Das Junge Rheinland“, die vom 9.2.-8.4.1985 in der Kunsthalle Düsseldorf zu sehen war (Abb. 3). Die Ausstellung beleuchtete die ganze Vielfalt der Künstlergruppe und stellte neben der Wiederveröffentlichung zahlreicher Originaltexte, Manifeste und Artikel auch Künstlerinnen und Künstler der unterschiedlichsten Gattungen vor, die im Jungen Rheinland aktiv gewesen waren. Ein Schwerpunkt lag auf der Darstellung des engen Verhältnisses zwischen Avantgardismus und linken politischen Überzeugungen, die sich letztendlich als schicksalsbestimmend erweisen sollte. In seiner Einleitung wies Jürgen Harten auf den Beitrag von Joseph Beuys hin, der im Rahmen der Ausstellung „von hier aus“ 1984 in den Düsseldorfer Messehallen seine Arbeit „Wirtschaftswerte“ präsentierte, eine Gruppe von Vorratsregalen mit Produkten aus der damaligen DDR, die er mit Gemälden von Künstlern aus dem Umfeld der Kunsthändlerin Johanna Ey aus dem Besitz des Kunstmuseum Düsseldorf umgab (dem heutigen Kunstpalast und den ehemaligen Düsseldorfer Kunstsammlungen, deren Direktor Koetschau und Kurator Walter Cohen wichtige Förderer des Jungen Rheinland gewesen waren). Die politische Geschichte der Künstlervereinigung stand im Kern dieser Erzählung, und Harten mahnte in seinem Text die anhaltende politische Verantwortung an, die jede Auseinandersetzung mit dem Jungen Rheinland erfordert. Er wandte sich gegen die Verharmlosung jener Künstler, die das NS-Regime entweder verherrlicht hatten oder zumindest als Mitläufer agierten und deren Nachfolger im Geiste noch immer ihren Einfluss geltend machten:

 

„Eines der perfidesten, weil scheinbar einleuchtenden Argumente unbedarfter oder unbelehrbarer Verharmloser nationalsozialistischer Kunst plädiert für künstlerische Unvoreingenommenheit. Da Kunst frei und nur nach ihren eigenen Gesetzen zu beurteilen sei, müsse, so meint man, letztlich von den politischen Verhältnissen abgesehen werden, zu deren Kultur sie zähle. Perfide ist daran die Tatsache, dass Ex-Nazi-Sympatisanten heute eine Freiheit in Anspruch nehmen, die die Nazis selbst mit Arbeitsverbot und Konzentrationslager bestraft haben. Es fehlt nur noch, dass sie sagen, die Künstler seien ja nicht als solche, sondern wegen ihrer Zugehörigkeit zum Widerstand oder in Anwendung der Nürnberger Rassengesetze verfolgt worden. Zugleich unterschlagen sie die tiefere Freiheit der Kunst, nämlich deren Amoralität, zum zweiten Mal, weil sie nachträglich für wertfrei erklären, was doch gerade den völkischen Werten gedient hatte, der Kult der Helden und Maiden. Dass in Wahrheit erst die ästhetische Amoralität auch eine moralisch engagierte Kunst möglich und glaubhaft macht – damit hätten jene Sympathisanten, ohne es zu wissen, recht; leider können sie sich praktisch auf den unverbindlichen Spielraum verlassen, den ihnen die Indifferenz des Handwerks und die Grauzone zwischen Bildwerken, Weltanschauung und politischem Ernst gewähren.“[6]

 

Die Ausstellung breitete eine derartige Fülle an Quellenmaterial und Kunstwerken aus, die so umfangreich nie wieder zusammen präsentiert wurde.[7] Im Ergebnis wurde deutlich, dass das Junge Rheinland eine zentrale Rolle in der Kunstentwicklung zwischen den beiden Weltkriegen gespielt hatte, es blieb aber schwierig, einen Überblick über diese komplexe Geschichte zu gewinnen. Es ergaben sich zahlreiche Möglichkeiten für die vertiefende Analyse einzelner Fragestellungen, die in den kommenden Jahrzehnten weiterbearbeitet werden konnten.

 

Problematisch blieb die mangelnde überregionale Ausstrahlung dieser Aktivitäten, die sich im Wesentlichen auf Düsseldorfer Institutionen beschränken sollten. Der Beitrag des damaligen Leiters der Graphischen Sammlung des Kunstmuseum Düsseldorf, Friedrich W. Heckmanns, im Katalog der von Stephanie Barron organisierten Wanderausstellung „Expressionismus: die zweite Generation 1915-1925“ blieb eine seltene Ausnahme überregional ausstrahlender Forschung zum Thema.[8] 2006 bilanzierte Annette Baumeister im Katalog Das Junge Rheinland. Vorläufer – Freunde – Nachfolger (Abb. 4) ihre mehr als 30 Jahre andauernde Erforschung der Geschichte der Künstlergruppe und legte dabei ein Mitgliederverzeichnis vor, das mit seinen 386 Namen eindrucksvoll belegte, wie weit der Einfluss dieser Gruppe reichte.[9] Daniel Schütz hat in den letzte 15 Jahren mit seinem Rheinischen Archiv für Künstlernachlässe eine wesentliche Aufbauarbeit geleistet und bewahrt zahlreiche Schriftnachlässe von Künstlerinnen und Künstlern der Region auf, wobei ein wesentlicher Schwerpunkt auf dem Jungen Rheinland liegt. Für die Erforschung der Gruppe ist sein Archiv inzwischen unverzichtbar geworden, und die von ihm herausgegebene Zeitschrift annoRAK fasst regelmäßig neue Ergebnisse zusammen.[10]

 

Zum 100. Jahrestag der Gründung der Künstlervereinigung fand im Kunstpalast die Ausstellung Das Junge Rheinland. „Zu schön, um wahr zu sein“ statt.[11] In essayistischer Verdichtung wurden hier einige der zentralen Themen dargestellt, die in der Geschichte der Gruppe von Bedeutung sind. Zwölf Künstlerinnen und Künstler wurden ausgewählt, deren Biografien die unterschiedlichen Generationen und auch teils gegensätzliche politische und ästhetische Programme veranschaulichten. Die Rolle der Künstlerinnen trat dabei ebenso neu ins Blickfeld wie die aus heutiger Sicht überraschend starke Fraktion religiöser Künstler, die sich durchaus im Konflikt zu den prominentesten Aktivisten wie Wollheim, Dix oder Max Ernst befanden. Die enge Verbindung zur Geschichte des Kunstpalasts wurde in der Ausstellung ebenso hervorgehoben und bot bei aller dramaturgischen Übersichtlichkeit durchaus Anlass für Kritik. Die Ausstellung war das Ergebnis einer intensiven Zusammenarbeit zwischen dem Museum und dem Kunsthistorischen Institut der Heinrich-Heine-Universität, das seinen Niederschlag nicht nur im Ausstellungskatalog findet,[12] sondern auch in einer Website, die künftig im d:kult-Portal der Stadt Düsseldorf präsentiert werden soll.[13] Aus Anlass der Ausstellung fand vom 22.-24. Mai 2019 die Tagung zum Thema Das Junge Rheinland. Gegründet, gescheitert, vergessen? statt.

 

Das Junge Rheinland ist also noch nicht vergessen, und das Interesse an der Geschichte dieser Künstlergruppe hält durchaus an. Kennzeichnend bleibt allerdings bis heute die spannungsvolle Frage, ob gegenüber der Gruppengeschichte nicht die Biografien der einzelnen Protagonistinnen und Protagonisten zu sehr in den Vordergrund rücken. Für die wenigen überregional bedeutenden Künstler wie Otto Dix oder Max Ernst ist der Rückgriff auf die Geschichte des Jungen Rheinland sicher nicht von essentieller Bedeutung, allerdings kann diese Geschichte auch Biografien von Künstlerinnen und Künstlern in Erinnerung rufen, die sonst eher vergessen würden.