Revolutionär, zornig, jung?
Das Künstlernetzwerk - Die Jungen aus Łódź und Düsseldorf

Małgorzata Stolarska-Fronia

In einem frühen Versuch, die Beschaffenheit einer künstlerischen Gruppe zu definieren, stellte Albert Schulze-Vellinghausen 1958 fest, dass diese „eine Gemeinschaft Einsamer, eine Verbundenheit Selbständiger“[1] sei. Die Künstlerinnen und Künstler schließen sich zu einer bestimmten Zeit – und manchmal auch nur für kurze Dauer – zu einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten zusammen. Was sie verbindet, sind gemeinsame Ideen, unter Umständen auch politische Ansichten sowie das Interesse an einer gemeinsamen Ausstellung ihrer Werke. Dennoch bleiben die individuellen Merkmale der einzelnen Künstlerinnen und Künstler ein wichtiger Bestandteil für das Agieren der jeweiligen Gruppe. Für viele künstlerische Gruppen der Zwischenkriegszeit war es charakteristisch, dass einzelne Künstler mehreren Kollektiven gleichzeitig angehörten. Wenn wir das Profil dieser Gruppen betrachten, sehen wir z.T. dieselben Künstler in verschiedenen Rollen, ihre Haltung stellt sich dabei als Ausdruck einer jeweils spezifischen künstlerischen Position dar. Der vorliegende Text versucht, zwei Künstlergruppen miteinander zu vergleichen: Jung Jiddisch und Das Junge Rheinland, und zwar durch das Prisma der Ideen und des Schaffens von Jankel Adler. Die grundlegenden Fragen lauten: Wie hat der Künstler Jankel Adler beide Gruppen beeinflusst? War seine Position in Düsseldorf ähnlich wie in Łódź? Wo lassen sich Unterschiede erkennen? Womit man letztlich zu der Frage gelangt: Was waren die wesentlichen Unterschiede zwischen den Gruppen Jung Jiddisch und Das Junge Rheinland?

 
Abb. 1 Arthur Kaufmann, Die Zeitgenossen, 1925, Öl auf Leinwand, 182 x 245,5 cm, Stadtmuseum Landeshauptstadt Düsseldorf, B 385. [Bildquelle: Stadtmuseum Landeshauptstadt Düsseldorf / © VG Bild-Kunst, Bonn]

Einer der mehrfach verflochtenen Fäden des Netzwerks der Avantgarde verläuft an der Linie zwischen zwei Industriestädten, die zudem in den Peripherien großer künstlerischer Zentren wie z. B. Warschau oder Berlin lagen, und zwar zwischen Łódź und Düsseldorf. Nur ein Monat lag zwischen den Gründungsdaten der 1919 gebildeten Künstlergemeinschaften – der Düsseldorfer Gruppe Das Junge Rheinland[2] und der Gruppe Jung Jiddisch aus Łódź.[3] Die Jung-Jiddisch-Gruppe war nach den Formisten (1917)[4] und der Gruppe Bunt (1918)[5] die dritte Künstlergruppe die sich in Polen etablierte. Sie gehört damit zur Spitze der polnischen Avantgarde, deren Anfänge auf die erste Ausstellung der Formisten zurückgeht und gilt als explizit jüdische Antwort auf die Bewegung der polnischen Expressionisten.

 
Abb. 2 O.A., Mitglieder der Jung Jiddisch Gruppe (von links): Marek Szwarc, Jankel Adler, Moyshe Broderzon, 1919, Museum Miasta Łodz

Arthur Kaufmann, Gründungsmitglied der Gruppe Das Junge Rheinland, schuf im Jahr 1925 das Gruppenporträt „Die Zeitgenossen“ (Abb. 1). Ein Äquivalent für die Künstler der Jung-Jiddisch-Gruppe haben wir nicht, es existiert nur ein Foto von drei Mitgliedern der Jungjiddischisten aus Łódź, auf dem Marek Szwarc, Jankel Adler und Moyshe Broderzon zu sehen sind (Abb. 2). Marek Szwarc hält die zweite und gleichzeitig dritte Ausgabe der Zeitschrift Jung Jiddisch in der Hand, die im März 1919 erschien – zu Pesach [Anm.: Jüdisches Fest, das an an den Auszug der Israeliten aus Ägypten, an seine Befreiung aus der Sklaverei und an seinen Bund mit Gott auf dem Sinai erinnert.]. Die drei jungen Männer auf dem Foto schauen den Betrachter nicht an, sondern blicken – mit einem Ausdruck der Begeisterung in den Gesichtern – auf das Licht, das durch ein Fenster außerhalb des Bildrahmens scheint. Der wesentliche Unterschied zwischen dem fotografischen Porträt der Jungjiddischisten und Kaufmanns Gemälde besteht darin, dass das Porträt der jüdischen Künstler in Łódź eine Erinnerung an die Entstehung der Gruppe darstellt, während Kaufmanns „Zeitgenossen“ bereits die Endphase des Jungen Rheinland einläutet. Was als eine Initiative junger Aktivisten begonnen hatte, entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einem Forum des Konflikts, in dem Kämpfe um Primat und Popularität ausgetragen wurden. Verbunden werden die beiden Gruppenporträts durch den Künstler Jankel Adler, der jedoch unterschiedlich dargestellt ist. Auf dem in Łódź entstandenen Foto ist er einer der drei ,Musketiereʻ, die im Namen einer eigenständigen jüdischen Kunst fochten, auf Kaufmanns Gemälde nimmt er die Haltung eines Außenstehenden ein – er steht in der dritten Reihe, trägt einen schwarzen Hut und einen weißen Schal und schaut den Betrachter von der Seite an.

 

Während des gemeinsamen Engagements in der Gruppe Das Junge Rheinland schuf Arthur Kaufmann mehrere Porträts von Adler. Das erste ist ein Doppelbildnis mit Betty Kohlhaas (1923, Abb. 3), dessen hieratische Komposition der weiblichen und männlichen Figur an Adlers Gemälde „Meine Eltern“ denken lässt (Abb. 4), das 1921 in Berlin entstand und als Abschied von Polen, vom Elternhaus und von der Kultur des Schtetls [Anm.: Bezeichnung für Siedlungen mit hohem jüdischem Bevölkerungsanteil im Siedlungsbereich der Juden in Osteuropa] gilt. Auf diesem hochformatigen Bild dominiert die Figur des Vaters. Er steht über der Figur der Mutter, die mit dem Finger nach oben weist und so auf die Hierarchie in einer jüdischen Familie und – damit zusammenhängend – auf die Bedeutung des vom Vater an den Sohn weitergegebenen jüdischen Gesetzes verweist. Auf Kaufmanns Porträt jedoch steht Betty Kohlhaas kompositorisch „über“ Jankel Adler, ihre Hand liegt auf der Schulter des Partners, der auf einem Stuhl sitzt. Beide Figuren schauen zur Seite, als wollten sie versuchen, den Eindruck zu vermeiden, dass sie sich zu einem gemeinsamen Porträt aufgestellt hätten, das sie als Paar zeigen soll. Sie widersetzten sich den Normen, die sowohl in der traditionell jüdischen Heimat des Künstlers als auch in den bürgerlichen Kreisen der deutschen Gesellschaft vorherrschten.

 

Adler lernte Betty Kohlhaas im Düsseldorfer Aktivistenbund 1919 kennen. Das Paar hatte eine gemeinsame Tochter, heiratete aber nie. Der Graphiker Gerd Arntz erinnerte sich an Adler zu jener Zeit wie folgt:

„Durch Betty Kohlhaas lernte ich Jankel Adler im Jahr 1920 im Aktivistenbund in Düsseldorf kennen. Er fiel in einer Gesellschaft von schon nicht ganz gewöhnlichen Menschen auf − wie aus einer anderen Welt. Seine feurigen Augen, seine volle Stimme, wenn er in seinem eigenen Deutsch sprach, was er sagte, ließen auf einen weiten Horizont schließen, über das Rheinland hinaus, jedenfalls brachte er als einer der ersten ein Stück Berlin mit. Nur war man im Westen natürlich dagegen, die Rolle der Hauptstadt zu überschätzen, da sorgten die Berliner schon selber für“.[6]

 

Die Sprache dieser Beschreibung – auch wenn sie aus der Perspektive von mehreren Jahrzehnten Abstand geschrieben wurde – lässt eine recht weit verbreitete Haltung deutscher Künstler gegenüber polnisch-jüdischen Künstlern erkennen, die als attraktiv-exotisch und wild empfunden wurden. Was Adler gegenüber anderen hervorhob, war sicher nicht nur sein Akzent, der die Melodie des Jiddischen erkennen ließ, sondern auch seine Haltung, sein Temperament – die Atmosphäre einer fremd-faszinierenden Welt, die ihm anzuhaften schien und einen Hauch von Exotik verbreitete, der in der lokalen Düsseldorfer Luft eine große Wirkung entfaltet haben mag.

 
Abb. 5 Arthur Kaufmann, „Jankel Adlers Traum“, wohl 1920er Jahre, Öl auf Leinwand, 60 x 80 cm, Stiftung Sammlung Volmer, Wuppertal [Bildquelle: Stiftung Sammlung Volmer / © VG Bild-Kunst, Bonn]

Die verträumte und mystische Natur, mit der man Adler in Düsseldorf in Verbindung brachte, stellte Kaufmann in einem weiteren Porträt dar: „Jankel Adlers Traum“ (Abb. 5). Dieses Gemälde scheint sich auf Marc Chagall zu beziehen und würdigt damit Adlers künstlerische Interessen, vor allem seine jugendliche Faszination für das Werk des legendären jüdischen Künstlers. Die nackte weibliche Figur, die über dem Boden schwebt und die – gleich einer Muse – den Kopf von Adler, der am Skizzenbuch sitzt, in ihre Arme nimmt, erinnert an die Chagallʼschen Liebesporträts, auf denen der Maler sich selbst und seine Frau Bella porträtierte. Nicht zuletzt verweisen der Hund, der unter dem Tisch liegt, sowie die Blumen auf Chagallʼsche Bezüge zur Welt der Tiere und der Natur. Aus dieser Komposition lässt sich schließen, dass auch im Düsseldorfer Umfeld die Wurzeln des jüdischen Malers Adler und sein Engagement für die Schaffung eines neuen jüdischen Stils bekannt und als Besonderheit anerkannt waren.

 

Jankel Adler bewegte sich mühelos durch die Netzwerke der Avantgarde und war ab 1914 in Deutschland tätig. 1918 kehrte er für kurze Zeit aus Barmen, wo er an der Kunstgewerbeschule studierte, nach Łódź zurück. Dort schloss er sich einer Gruppe von Enthusiasten an, die an einem Programm zur Erneuerung der jüdischen Kultur arbeiteten, wobei die Kunst eine wichtige Rolle spielen sollte. Sie glaubten, das beste Stilkostüm für ihre fortschrittlichen Ideen seien Expressionismus und Futurismus. Adler – Co-Autor des Programms – wurde rasch zu einem der führenden ideologischen Köpfe der Gruppe. Unter allen Mitgliedern wurde er am deutlichsten mit chassidischer Spiritualität identifiziert. Jechiel Jeszaja Trunk erinnerte sich an den belebenden Einfluss, der sich bemerkbar machte, als Adler, aus Deutschland kommend, dazustieß: „Mit Adlers Ankunft erwachten die Künstler in Łódź aus ihrer Nachtblindheit.“[7]

 

Während seiner Tätigkeit in der Jung-Jiddisch-Gruppe schrieb Adler Manifeste, in denen er den Kunstschaffenden seiner Generation eine Stimme gab und für innovative Tendenzen in der Kunst plädierte, wobei er zugleich die Beziehung zur Tradition hervorhob – sowohl im Kontext vergangener künstlerischer Tendenzen als auch im Zusammenhang mit der jüdischen Kultur. Seine Theorien spiegelten die Entwicklung der Formen in der zeitgenössischen Kunst, die er als dynamisches Phänomen wahrnahm, als in einem kontinuierlichen Prozess befindlich. In ebendiesem fortwährenden Werden der zeitgenössischen Kunst sah er ihr größtes Potential. Hinsichtlich der jüdischen Kunst war er der Auffassung – ähnlich wie Marek Szwarc und viele andere jüdische Kunsttheoretiker –, dass Marc Chagall mit seinem Werk einen Wendepunkt darstelle. In einem ebenso apologetischen wie pathetischen Text zur Kunst Chagalls zeigt sich Adlers Überzeugung, dass die künstlerische Kreativität den Prinzipien der chassidischen Schlichtheit und Ekstase ähnlich sei. Chagalls Kunst sollte deren höchster Ausdruck sein: „Seine volkstümliche Einfachheit ähnelt der Einfachheit und Natürlichkeit von der? Chassidim [...]. Mark Szagał [Marc Chagall] [...] erhebt sich [...] in höchstem Maße zur individuellen Ekstase.“[8] Adlers Charakterisierung von Chagalls Kunst offenbart Erwartungen und Projektionen, die mit dem Begriff der modernen jüdischen Kunst verbunden sind – sie habe, so die Auffassung, eine schlichte, authentische, aber keineswegs primitive Botschaft. Als erstes sieht Adler in Chagall ein bestimmtes Verhältnis von Moderne und Tradition personalisiert: „Er ist ein gesegneter jüdischer Jüngling – ein neuer Jude – mit den hellen Silberlocken der alten Propheten“.[9] Des Weiteren erkennt er in ihm das Schicksal der Galut: „Seine Juden bergen in sich das Geheimnis der einsamen Wanderer – die seit Urgenerationen und durch Urzeiten wandern.“[10] Wie andere jüdische Künstler auch, sah Adler in Chagall einen wesentlichen Vermittler der „Jiddischkeit“ in der Kunst. Somit war Chagall für ihn der Künstler, der mit seiner wachsenden Popularität die jüdische Kunst „offiziell“ etabliert und zu einem Bestandteil der europäischen Moderne gemacht hatte. Der jüdische Expressionismus, zu dessen erstem Protagonisten Chagall werden sollte, avancierte zu einem Idiom der Moderne.

 

Wesentlich für Adler war außerdem der Wunsch, die Hierarchie zwischen Zentren und Peripherien umzukehren: Die Schtetlech und die bislang marginalisierte jüdische Kunst fanden durch die Malerei Chagalls den Weg in westeuropäische Metropolen wie Berlin oder Paris, und brachten der Öffentlichkeit auf diese Weise die geistige Welt der osteuropäischen Juden nahe. Adler selbst schreibt: „Einmal gelang es Mark Szagał [Marc Chagall], dass für eine Sekunde Zehntausende von Menschen den Atem anhielten, und das geschah in Berlin auf der Potsdamer Straße, als in einem Fenster der SturmGalerie plötzlich der große Kopf eines Juden auftauchte.“[11]

 
Abb. 6 Jankel Adler, „Selbstporträt“, Öl und Sand auf Leinwand und Holz, um 1924, Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Inv. Nr. KMV 1992/14. [Bildquelle: © Kunst- und Museumsverein im Von der Heydt-Museum]

1921, als sich die Jung-Jiddisch-Gruppe langsam aufzulösen begann und einige ihrer Mitglieder sich der Warschauer literarischen Avantgarde um die Chaljastre-Gruppe anschlossen oder auswanderten, reiste Adler über Berlin nach Barmen. 1922 ließ er sich in Düsseldorf nieder, wo er sich dem Jungen Rheinland anschloss. Im selben Jahr wurde in der Zeitschrift Nasz Kurier (Unser Kurier) sein Artikel Expressionismus veröffentlicht, in dem Adler feststellt, dass der Expressionismus die Bestrebungen und die religiöse Suche der jungen Generation jüdischer Künstler [und vor allem nach ihrer Seele] am besten zum Ausdruck bringe. Dort heißt es: „Der Expressionismus, der nicht nur äußere und zufällige Phänomene sieht, wie es der Impressionismus tut, ist sich bewusst, dass alles eins und ewig, alles Einheitlichkeit und Ewigkeit ist und über allem der heilige Atem und die Ewigkeit schweben.“[12] Während seines Aufenthalts in Düsseldorf hat sich Adlers Stil sichtbar verändert. Ekstatische Visionen – die er unter Verwendung kabbalistischer Symbole und mit Bezügen zur Kultur des Schtetls zur Darstellung brachte – rückten zunehmend in den Hintergrund seines Schaffens, auch vom expressionistischen Ausdruck wandte er sich ab. Seine starke Identifikation mit der jüdischen Kultur blieb jedoch bestehen. Auf einem „Selbstporträt“ aus dem Jahr 1924 (Abb. 6), mit dem er auf interessante Weise eine Gemäldeskizze mit einem Vollbild verbindet, schrieb er seinen Namen „Adler“ mit hebräischen Buchstaben.

 

In den 1920er Jahren gab es in Berlin eine Mode, die sich auf Künstler aus Osteuropa, sogenannte „Ostjuden“ konzentrierte. Viele jüdische Künstler, die in den Westen auswanderten, gehörten bald jener Gruppe an, die sich um die „Senioren“ des jüdischen Expressionismus in Deutschland – Jakob Steinhardt und Ludwig Meidner – gebildet hatte. Das Interesse an jüdischen Themen, vor allem an mystischen Motiven und Themen aus der jiddischen Literatur war – vermutlich dank Adler und Kaufmann – auch in der Düsseldorfer Region vorhanden. Gert H. Wollheims „Golem. Weibliches Selbstbildnis“ (Abb. 7), ein 1921 entstandenes Gemälde, stellt sich als eigenwillige Mischung von Symbolen im Geiste des Surrealismus und Dadaismus dar. Die Gestalt des Golem hatte der 1916 erschienene Roman von Gustav Meyrink in die Populärkultur eingeführt. Im selben Jahr wie Wollheims Bild erschien in New York Halpern Leivicks dramatische Dichtung Golem,[13] die auch zur Aufführung gelangte. Leivicks Interpretation der Golem-Legende präsentiert einen komplexen Charakter – auf der einen Seite verkörpert sein Golem eine unberechenbare, aggressive Kraft, auf der anderen Seite ist er eine Kreatur, die ihres eigenen Willens beraubt ist, in tiefer Abhängigkeit von seinen Schöpfer lebt und unter der Ablehnung der Umgebung leidet.

 

Es ist nicht sicher, ob Wollheim Leivicks Theaterstück kannte. Es wäre denkbar, dass Adler ihm davon erzählte (Leivick schrieb seinen Golem auf Jiddisch) oder dass er die Originalillustrationen von Max Weber sah. Sicher lässt sich aber sagen, dass sein Gemälde einen ähnlichen Oberton aufweist wie Leivicks Interpretation der Prager Legende, wobei zeitgenössische und universelle Motive der Golemfigur als eine Matrix anzusehen sind, die auf ein kompliziertes Verhältnis der sozialen Rollen und auf die komplexe Struktur der Leidenschaften des modernen Menschen verweist. Wollheim, der auch mit anarchistischen Kreisen verbunden war, stellt mit seiner Deutung des Golem-Stoffes sowohl gängige Modelle eines Schöpfers als auch eines männlichen Künstlers in Frage. Auf dem Gemälde erscheint er als Ausgestoßener, umgeben von einer Reihe visueller Zeichen.

 

Noch etwas anderes ist aus Wollheims Kontakt mit Adler und den jüdischen Avantgardisten entstanden: die Gebärde der Hand als Reflexion der sozialen oder religiösen Funktion und Mission, verbunden mit einer Wirkung der Inszenierung, die die Aufmerksamkeit des Betrachters anzieht, um die Botschaft des Bildes zu verstärken. Wie die Mutter auf Adlers Bild „Meine Eltern“ auf den Vater als den Kopf der Familie weist (siehe Abb. 4), so deuten auf Wollheims Selbstporträt beide Hände auf einen unendlichen Raum jenseits des Bildes, der durch einen blauen Himmel angezeigt wird. Die Hand mit den charakteristisch gespreizten Fingern lässt an ein weiteres Bild von Adler denken, das während seiner Zugehörigkeit zur Gruppe Jung Jiddisch entstanden ist: „Segen des Baal Schem Tow“. Zu sehen ist hier die Handhaltung beim Priestersegen, der der Welt Frieden bringen soll. Dieselbe Hand taucht auch im futuristischen Repertoire von El Lissicky auf – in den Illustrationen für Ilja Ehrenburgs Roman „Shifs-karte“ (1922, Abb. 8). Der Abdruck der Hand wurde mit den hebräischen Buchstaben „pej“ und „nun“ markiert – die gängige Abkürzung für „po nikbar …“ („hier liegt …“) auf Grabsteinen. Symbolisiert werden die Dämmerung der alten jüdischen Welt und die Geburt einer nachrevolutionären Ordnung. Die Hand ist auch ein häufiges Motiv auf den Gemälden Marc Chagalls – so etwa auf seinem berühmten „Selbstporträt mit sieben Fingern“.

 
Abb. 8 El Lissicky, Illustration für "Shifs Karta", in Ilya Ehrenburgs Sechs Geschichten mit einfachem Ende, 1922 [Bildquelle: © 2005 Artists Rights Society (ARS), New York / VG Bild-Kunst, Bonn]

Alles ist miteinander verbunden, und umso mehr, als Adler in eben jenem Jahr – 1922 – zusammen mit Henryk Berlewi, einem Kollegen aus der Zeit in Łódź, an der Organisation des I. Kongresses der Union internationaler fortschrittlicher Künstler sowie an den Vorbereitungen der vom Jungen Rheinland initiierten I. Internationalen Kunstausstellung 1922 in Düsseldorf beteiligt war. Die jüdischen Künstler (u.a. El Lissicky) wollten ihre Werke ursprünglich in einer eigenen Abteilung präsentierten, was jedoch nicht verwirklicht wurde. Die kontrovers diskutierte Ausstellung wurde jedoch von Berlewi genutzt, um die Dämmerung, ja sogar den Todeskampf der expressionistischen Kunst anzukündigen. In einer Rezension ging er hart mit den Deutschen Künstlern ins Gericht – der Vorwurf der Rückständigkeit war unüberhörbar: „Die Mehrheit der Exponate ist geprägt von literarischen Strömungen, romantischen schlechthin. Der so genannte Expressionismus ist immer noch der allmächtige Meister [...].“[14] Symptome der Agonie innerhalb der expressionistischen Strömung sah er vor allem im Dadaismus und in der Kunst der Novembergruppe. Seine Worte verweisen nicht nur auf eine neue Ausrichtung der abstrakten Kunst, sie markieren ebenso den Beginn der Auflösung der expressionistischen Tendenzen in der Kunst und damit letztlich auch der Beziehungen zwischen den Künstlern, die sich dieser Richtung verschrieben hatten.

 

Wenn auch hauptsächlich in Deutschland tätig, war Adler in der jüdischen Presse in Polen und auf lokalen Ausstellungen stets präsent. Er verfasste auch Texte und Rezensionen zu Kunstausstellungen im Rheinland. In einer davon, die im Juni 1925 in der Zeitschrift Literarische Bleter erschien, beschrieb Adler die Jahrtausendfeier der Eingliederung des Rheinlandes in das Reich. Der Künstler definierte das Fest mit dem jüdischen Wort "yom tow" – ein Feiertag – und konzentrierte sich in erster Linie auf die jüdische Abteilung der Ausstellung, für die der Oberrabbiner von Köln, Dr. Kabr, verantwortlich gewesen war. Drei Räume mit Sammlungen jüdischer Dokumente und Artefakte, insbesondere die Megilot (die Estherrolle) aus Polen, veranlassten ihn, über die zeitgenössische Situation jüdischer Künstler nachzudenken. Es zeigt, dass die Frage „ein jüdischer Künstler sein oder nicht zu sein" für ihn immer noch aktuell war, obwohl andere jüdische Künstler seiner Generation, wie Berlewi, bereits skeptische Urteile gefällt hatten. Auf diese Frage antwortete Adler: „Solche Megilot geben uns, Malern, die kein Publikum [...] und keine Mäzene haben [...] Trost, dass unsere Arbeit, unsere Bemühungen nicht zufällig und nicht umsonst, sondern organisch notwendig sind [...] und von großer Bedeutung für die Entwicklung der jüdischen Eigenschaften, jüdisches Volk.”[15] Gleichzeitigt weist der Text auf die immer noch starke Identifikation des Autors (lub tutaj imię jego etc.) mit der Kultur osteuropäischer Juden hin: „Und wir, die Juden des Ostens, sind in jedem Moment, in dem das Gemeinschaftsgefühl gebrochen ist, ein lebendiges Erbe (Jerusha).”[16] In diesem Artikel äußerte er sich auch zu politischen Stimmungen im Rheinland und nannte die Feier eine Fassade für den patriotisch-chauvinistischen „neuen Kurs“ und den letzten Atemzug des Todes der Separatistenbewegung.[17] Eine biografische Notiz unterhalb seines Textes wies ihn als jüdischen Künstler mit einer Fülle von Errungenschaften im Düsseldorf-Milieu aus, was auch durch die Erwähnung von Werken Adlers in den lokalen Museumssammlungen unterstrichen wurde.

 

1926, ein Jahr nach der Entstehung von Kaufmanns „Zeitgenossen“, führte der Schriftsteller Isaac Bashevis Singer ein Interview mit Jankel Adler über seine Beziehung zur jüdischen Herkunft und Kunst. Er präsentiert ihn als in der „deutschen Heimat" lebenden Künstler, wo er Anerkennung erlangte, aber immer noch seine „jidiszykajt" betont.[18] Adler blieb seiner Neigung zum Expressionismus treu, die er in dem Beitrag von 1922 formuliert hatte – mit der Betonung des Unterschieds zwischen Impressionismus und Expressionismus: „Der Erste richtet sich vor allem auf den Sehsinn, während der Zweite sich an alle Menschenwesen richtet. Der Impressionist hat seine festgelegten optischen und künstlerischen Regeln, und der Expressionist nähert sich den Dingen ohne Erfahrung, brutal, roh wie das Leben selbst.“[19] Doch sieben Jahre nach der Veröffentlichung der ersten Ausgabe der Zeitschrift Jung Jiddisch und beeinflusst vor allem von seiner Erfahrung als Mitglied der Gruppe Das Junge Rheinland sowie unter dem Eindruck der Arbeiten der Novembergruppe wollte Adler nicht mit mehr mit „Ismen“ identifiziert werden. Interessanter noch – er versäumte es nicht zu erwähnen, dass er in Deutschland immer noch als jüdischer Künstler aus Polen wahrgenommen werde, das heißt als ein „Anderer“, ein Fremder. In einer Erinnerung an die Auszeichnung, die er für die Ausführung eines Wandgemäldes in der Düsseldorfer Tonhalle anlässlich der GeSoLei-Ausstellung 1926 erhalten hatte, klagte er über den Neid seiner Kollegen: „Obwohl ich zur Spitze der modernen Kunst der deutschen Rheinregion gehörte, hat diese Auszeichnung in gewissen Kreisen für böses Blut gesorgt. Sie beschwerten sich darüber, dass die Auszeichnung einem Ostjuden zugefallen sei.“[20] Neben Adler hatten jedoch auch weitere Mitglieder des Jungen Rheinland (Arthur Kaufmann, Adolf Uzarski, Werner Heuser und Heinz May) diese Auszeichnung erhalten.

 

So schwer es fällt, das Foto der Jung-Jiddisch-Künstler und Kaufmanns Porträt von den Mitgliedern des Jungen Rheinland zu vergleichen, so verschieden sind auch Programm, Stil und Charakter der Aktivitäten beider Gruppen. Die Jung-Jiddisch-Gruppe, die stark von der radikalen Kiewer Kulturliga beeinflusst war, konzentrierte sich auf ihre Rolle als Schöpfer eines neuen jüdischen Kunstprogramms, das einen von jüdischer Mystik und jiddischer Literatur inspirierten, apokalyptischen und messianischen Inhalt in expressionistisch-futuristischem Stil zum Ausdruck brachte. Dadurch war sie eine situative Gruppe, aus starken Persönlichkeiten zusammengesetzt, deren Ziel es war, einen kulturellen und sozialen Wandel herbeizuführen. Sie experimentierte tapfer mit der Form. Das Junge Rheinland hingegen war ein Kollektiv, dessen Interesse hauptsächlich in der gemeinsamen Präsentation seiner Werke lag. Die von den Mitgliedern der Gruppe vertretene Stilistik und Ideologie waren recht eklektisch, manchmal auch konservativ. Gemeinsam war jedoch beiden Gruppen, dass sie im Rahmen des damals populären Paradigmas der Erneuerung der Kunst operierten und in einem regionalen Kontext tätig waren. Ihr Denken, ihr Handeln und ihre Rezeption stehen zudem in Verbindung mit der spezifischen Dynamik der beiden Städte. Diese Besonderheit beeinflusste auch ihr letztes Schicksal bezüglich der Auflösung beider Gruppen. Nicht zuletzt waren ihnen anarchistische Ansichten gemeinsam; auch hier mag ein Grund dafür liegen, dass Jankel Adler seinen Platz in Düsseldorf fand, bis er – 1933 – vor den Nationalsozialisten fliehen musste.