Das Junge Rheinland und die belgische Avantgarde: Randnotiz(en)

Inga Rossi-Schrimpf


Am 15. August 1922 erschien in der Antwerpener Zeitschrift Lumière eine kurze Notiz[1] über den Düsseldorfer Kongress der Union Internationaler Fortschrittlicher Künstler vom 29. bis 31. Mai 1922, an dem der Autor der Notiz, Tristan Rémy, für Frankreich teilgenommen hatte. Diese unterrichtet knapp über Hauptströmungen und Ergebnis des Kongresses. Der gegründeten Union wird bei abwartender Haltung hohes Potential zugeschrieben. Die Geschichte könnte in dieser Notiz ihren Anfangs- und gleichzeitig ihren Endpunkt haben. Ein französischer Autor und eine einzige kurze Notiz zwei Monate nach den Ereignissen ohne Hinweis auf eine belgische Beteiligung vor Ort legen zunächst nahe, dass die durchaus regen Beziehungen Belgiens zum Rheinland und angrenzenden Gebieten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg durch diesen und seine Folgen gekappt wurden.[2] Belgien hatte unterdessen zudem den Nimbus der künstlerischen Vorreiterrolle verloren. ‚Jungbelgische Kunst‘ wurde zwar auch von der jungen, internationalen Avantgarde weiterhin als Bezugspunkt genannt, bezog sich aber meist auf Künstler der Generation vor 1900, beginnend mit James Ensor.[3]

 

Einige belgische Künstler sind jedoch sehr wohl mit dem Kongress in Zusammenhang zu bringen. Andere tauchen wiederum auf der zeitgleich stattfindenden „I. Internationalen Kunstausstellung Düsseldorf 1922“ im Warenhaus Tietz auf: Marthe (oder Tour) Donas, Frans Masereel, Jozef Peeters und Jan Hubert Wolfs (Abb. 1). Zur Eröffnung durfte mit Paul Colin zudem ein Belgier eine Rede halten. Die in Zusammenhang mit Kongress und Ausstellung genannten Namen sind mit folgenden belgischen Gruppierungen in Verbindung zu bringen: den Antwerpenern Lumière und Kring Moderne Kunst, der Brüsseler Zeitschrift L’Art libre und der Gruppe 7Arts mit gleichnamiger Zeitschrift. Der genauere Blick gibt schließlich ein feines Beziehungsnetz zwischen belgischen und deutschen Künstlerinnen und Künstlern, Galeristen und Gruppierungen wider, das sich 1922 in Düsseldorf verdichtet und aus zwei Strömungen bestand – dem der Bemühungen als Reaktion auf den Krieg eine internationalistische, pazifistische Kunst zu begründen und dem der trotz des schwierigen wirtschaftlichen und politischen Kontext den Kunstmarkt wieder aufzubauen.

 
Abb. 1 Katalog der "I. Internationalen Kunstausstellung Düsseldorf 1922", Beitrag der belgischen Künstler, Brüssel [Bildquelle: Bibliothek der Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique]

Revolution: Internationalismus, Pazifismus und Gemeinschaftskunst

Um 1918/19 war das Interesse der jungen, fortschrittlichen belgischen Künstlergeneration an dem Kunstgeschehen in Deutschland und dem gesellschaftlichen und politischen Engagement der deutschen Künstlerschaft erstaunlich groß und dies trotz des allgemeinen anti-deutschen Ressentiments in Belgien. Dies war zudem eine qualitative Wendung gegenüber dem lebhaften Kunsttransfer zwischen den beiden Ländern aus der Vorkriegszeit, u.a. mit Beziehungen zwischen La Libre Esthétique, dem Sonderbund, Kunst van Heden und dem Kölnischen Kunstverein, in dem die zeitgenössischen deutschen Kunstströmungen nur marginal von belgischen Künstlern und Kunstkritikern wahrgenommen wurden und wenig Zuspruch fanden. Diese Haltung änderte sich für eine neue Generation während des Ersten Weltkriegs unter den Umständen von Besatzung und Exil grundlegend. Deutscher Expressionismus, vor allem derjenige des Blauen Reiters sowie der Holzschnitt der Brücke-Künstler und deren Nachfolger, wurde nun als eine Grundlage der von dieser jungen Generation angestrebten neuen Kunst erkannt.[4]

 

Wie fast überall in Europa, entstanden auch in Belgien in der Zeit ab 1917/18 verschiedene neue, oft auch kurzlebige Künstlerinitiativen. Sie propagierten eine neue Welt(-ordnung), internationale Zusammenarbeit und neue Kunstformen. Von einem futuro-kubo-Expressionismus kam die junge belgische Avantgarde in kurzer Zeit zur Abstraktion, der „Plastique Pure“. Sowohl die Idee der Gemeinschaftskunst als auch des internationalen Pazifismus wurde aufgenommen. Gleichzeitig arbeitete man daran die vierjährige Isolierung zu überwinden und ein durch Besatzung und Exil zersplittertes Kunstmilieu wiederaufzubauen. Das Verhältnis zu Deutschland war schwierig: Während die Mehrheit in Belgien gegen Deutschland eingestellt war, bedeutete der große Systemumbruch in Deutschland für eine Minderheit die Hoffnung, die Weltrevolution auch nach Belgien zu holen. Zu ehrlichem künstlerischen Interesse an der zeitgenössischen deutschen Kunst, kamen dementsprechend anti-bürgerliche Rebellion, politischer Aktivismus, vorherige Verbindungen und teils auch Opportunismus als Beweggründe, warum viele dieser Initiativen in irgendeiner Weise den Kontakt nach Deutschland suchten. Am weitesten ging zunächst die Gruppe Lumière, die als gemäßigt revolutionär bezeichnet werden kann, und Paul Colin, der Herausgeber der Zeitschrift L’Art libre, die auch untereinander in engem Kontakt waren und der pazifistischen Clarté-Bewegung nahestanden. Paul Colin bereiste ab 1918 fast alle deutschen Provinzen, um sich vor Ort ein Bild von dem ehemaligen Feind zu machen und so dem Geist von Versailles etwas entgegenzusetzen. Er veröffentlichte anschließend seine Eindrücke.[5] Lumière, die insbesondere den zeitgenössischen Holzschnitt als expressionistisches Ausdrucksmittel par excellence förderten, luden ihrerseits nach Krieg und Besatzung bereits 1921 deutsche Künstler zu ihren Ausstellungen ein. Darunter u. a. Max Burchartz und Franz M. Janssen, die auch Mitglieder des Jungen Rheinland waren. Die deutschen Künstler stellten schließlich 1923 gemeinsam mit Lumière in Amsterdam aus. Künstler von Lumière nahmen wiederum im Oktober 1922 an der „Internationalen Ausstellung revolutionärer Künstler“ in Berlin teil (Abb. 2). Diese wurde von der im März desselben Jahres gegründeten Gruppe Die Kommune organisiert, die als Vorläufer der Kölner Progressiven gilt. Es stellten u.a. Jankel Adler, Otto Freundlich, Raoul Hausmann, Stanislaw Kubicki, Franz Wilhelm Seiwert und von Lumière zumindest Henri van Straten und Joris Minne aus.[6] Diese beiden belgischen Künstler sollen zuvor an dem Düsseldorfer Kongress teilgenommen und zu der Gruppe gehört haben, die die Veranstaltung gemeinsam mit Kubicki aus Protest gegen einen Schulterschluss mit dem traditionellen Kunstbetrieb verlassen hat.[7] Demnach wäre die Teilnahme der Belgier an der Berliner Ausstellung eine Folge der Ereignisse in Düsseldorf. Auch Tristan Rémy, der Autor der Notiz über den Kongress in Lumière, hatte die Gruppe um Kubicki und Freundlich in Düsseldorf kennengelernt und war mit diesen nach Berlin zurückgereist. Bereits vor dem Düsseldorfer Kongress war Rémy zudem mit den Lumière-Dissidenten um Maurice van Essche von Ça ira! in Kontakt getreten. Eine Verbindung zwischen dem Berliner und Antwerpener Kreis über Rémy erscheint daher ebenso plausibel. Lumière selbst hatte sich zudem seit dem Vorjahr über Friedrich Wilhelm Hübner um Ausstellungsmöglichkeiten in Deutschland bemüht und hatte seit 1920 mit Künstlern wie mit Conrad Felixmüller Kontakt, der Holzschnitte mit u.a. van Straten tauschte[8]. Ein von Otto Freundlich an den Kopf von Lumière, Roger Avermaete, adressierter Brief von August 1922 stellte dann eine Mitarbeit seines Kreises an der Antwerpener Zeitschrift in Aussicht.[9] Im selben Brief lud er die Antwerpener zur Teilnahme an der Berliner Ausstellung ein und sandte zwei Manifeste, die „erklären, warum man sich von den anderen Künstlergruppen getrennt habe“. Aufschluss über die genauen Umstände des Erstkontaktes dieser beiden Künstlergruppen gibt auch dieses isolierte Dokument nicht. Doch ist ein Schulterschluss beider Gruppen kohärent. Beide verwehrten sich dem traditionellen Kunstbetrieb und verschrieben sich einem pazifistischen internationalem Netzwerk, ohne der Figuration den Rücken zu kehren.

 
Abb. 2 Ankündigung der "Internationalen Ausstellung revolutionärer Künstler" unter Beteiligung der belgischen Gruppe „Lumière“, Berlin, 1922 [Bildquelle: Bildzitat aus: Mantis, Peter, Versuch einer Rekonstruktion. Internationale Ausstellung Revolutionärer Künstler 1922 in Berlin, Berlin 1975, Titelseite.]

Ebenfalls zu den pazifistischen Netzwerken gehörte der bereits erwähnte Paul Colin, laut Roger Avermaete damals „ein großer Revolutionär“[10] – heute dagegen vor allem als Kollaborateur unter der zweiten deutschen Besatzung im Gedächtnis geblieben. Künstlerisch kann er kaum als avantgardistisch eingestellt gelten, es sei denn man fasst den Avantgarde-Begriff sehr weit. Er war vor allem expressionistisch geprägt und hing noch der Aura des belgisch-deutschen Kulturtransfers der Vorkriegszeit nach, was sich u.a. im Lobgesang auf das Osthaus’sche Folkwang-Museum in Hagen äußerte. Sein Bezug zu Deutschland fußte auf der Rezeption der Weissen Blätter und seiner Rolle in der Clarté-Bewegung, in der sich z.B. auch Kasimir Edschmid engagierte. Seine deutschen Kontakte konzentrierten sich im Wesentlichen auf diesen und René Schickele sowie die Darmstädter Sezession. Er muss daher wohl auch auf der Eröffnung der Ausstellung in Düsseldorf als Gast der Darmstädter Sezession, einer Mitinitiatorin des 1. Kongresses der Union fortschrittlicher internationaler Künstler, gelten. Paul Colin hatte nicht nur 1919 die Zeitschrift L’Art libre gegründet, die in den Jahren von 1919 bis 1922 in Belgien wohl diejenige Zeitschrift war, die am meisten über Deutschland berichtete und in deren Redaktion zahlreiche deutsche Zeitschriften zur Einsicht bereitgestellt wurden. Seit 1919 bemühte er sich zudem die Clarté-Bewegung in Deutschland zu etablieren. Als er 1922 in Düsseldorf sprach – „um in feurigen, formvollendeten Worten die Brüderlichkeit der Kunst zu betonen, die keinen Völkerhass kenne“, wie in der KPD-Zeitung Freiheit zu lesen war[11] –, stand seine Zeitschrift L’Art libre kurz vor dem Aus und die Gründung der Folgezeitschrift Europe, deren Titel ebenfalls Programm war, kurz bevor. Gleichzeitig arbeitete er zu der Zeit für den Brüsseler Kunsthändler Georges Giroux, der seit 1912 leider nur wenig belegbare Kontakte zum deutschen Kunsthandel unterhielt. Colin muss die Düsseldorfer Ausstellung vor allem genutzt haben, um auf der internationalen Bühne seine Ideen zu verbreiten und sich als Vermittler zwischen den Völkern und insbesondere zwischen Deutschland, Belgien und Frankreich zu profilieren. In seinen eigenen Zeitschriften berichtete er nicht von der Ausstellung oder dem Kongress, wohl aber wurde seine Rede in Alfred Flechtheims Zeitschrift Der Querschnitt in französischer Sprache abgedruckt.

 

1922 – Verdichtung der internationalistischen Bestrebungen

Auf der Teilnehmerliste zum Düsseldorfer Kongress finden sich zwei bisher noch nicht näher betrachtete belgische Namen – wenngleich nicht als Teilnehmer, sondern nur als repräsentierte ‚Gruppen‘ (Abb. 3). Theo van Doesburg profilierte sich hier als Repräsentant sowohl Hollands, d.h. von De Stijl, als auch Belgiens, wobei hier die Namen (Karel) Maes und (E. L. T.) Mesens angegeben werden. Ersterer gehörte sowohl zu der Gruppe Kring Moderne Kunst um den Antwerpener Jozef Peeters, als auch zur Brüsseler Gruppe 7Arts um die Brüder Victor et Pierre Bourgeois. Beide Kreise hatten tatsächlich engeren Kontakt mit De Stijl, wobei es zwischen Peeters und Van Doesburg zum Konkurrenzkampf kam. Der Eintrag auf der Düsseldorfer Teilnahmeliste kann daher symbolhaft für das Konkurrenzgebaren zwischen Niederländern und Belgiern angesehen werden, das von van Doesburg erfolgreich auf deutschem Boden fortgeführt wurde.

 
Abb. 3 Anwesenheitsliste des Kongress der Union Internationaler Fortschrittlicher Künstler, Düsseldorf, 1922. [Bildquelle: Bildzitat aus: Am Anfang. Das Junge Rheinland. Zur Kunst- und Zeitgeschichte einer Region 1918-1945, Ausst.-Kat. Kunsthalle Düsseldorf, hg. v. Ulrich Krempel, Düsseldorf 1985, S. 60.]

Jozef Peeters hatte 1918 den Kring Moderne Kunst gegründet. Dahinter stand einerseits die Überzeugung, dass Künstler Veränderungen insbesondere in Städteplanung, Architektur und Design über die Idee der ‚Gemeinschaftskunst‘ herbeiführen konnten; andererseits ging es um eine Modernisierung der Flämischen Bewegung unter Beimischung von sozialdemokratischem Gedankengut und künstlerischer Abstraktion. Peeters inspirierte sich offen bei deutschen Initiativen wie dem Arbeitsrat für Kunst oder der Novembergruppe und stand dafür früh mit Adolph Behne und Rudolf Belling in Kontakt. So entwarf er eine belgische Version des Kunstenaarsraad, der aber bei seiner (recht späten) Gründung im Februar 1921 in einem Klima steigender Desillusion nicht weit über das Entwurfsstadium hinauskam. Peeters ging es bei einem solchen Künstlerrat auch um das Bündeln der Kräfte verschiedener Initiativen auf nationaler Ebene, womit er auf einer Linie mit dem Grundgedanken des in Deutschland gegründeten Kartells lag. Bereits im Juli 1920 hatte sich der Kring kurzzeitig mit verschiedenen Gruppen, u.a. mit Lumière, in einer Art Künstlergewerkschaft zusammengeschlossen, ohne dass diese Gewerkschaft irgendeinen größeren Eindruck in der belgischen Kunst- und Kulturgeschichte hinterlassen hätte. Diese zunächst Antwerpener Initiative hatte immerhin landesweite Ambitionen, zum Vorstand gehörte selbstverständlich Jozef Peeters, Sekretär war Henri van Straten. Trotz der Rückschläge blieb Peeters von dem Nutzen eines solchen Künstlerrates zutiefst überzeugt, wovon noch sein Vortrag „Over moderne plastiek & Kunstenaarsraden“ vom Januar 1922 sowie ein im November 1922 veröffentlichter Text zeugen.[12] Peeters suchte ebenfalls Anschluss an die konstruktivistische Internationale.

 

Ein weiteres Format, das Peeters die angestrebte Führungsrolle sichern sollte, waren vom Kring organisierte Kongresse mit Begleitausstellungen, von denen der erste 1920, zwei weitere 1922 stattfanden. Die Kongresse bestanden aus Vorträgen zu verschiedenen Aspekten und Künsten. Der im Januar 1922 organisierte zweite Kongress war in seiner Absicht international. Auf der Ausstellung war u.a. eine große Anzahl von Künstlern der Berliner Galerie Der Sturm zu sehen, darunter Rudolf Belling mit Skulpturen. Dies war außergewöhnlich, in einer Zeit in der vor allem Zeichnungen und Drucke als leicht transportierbare Kunst die Grenzen passierten. Mitglieder der Stijl-Gruppe um van Doesburg stellten 1922 ebenfalls aus oder hielten Vorträge. Aufgrund von Beschränkungen im Grenzverkehr zwischen Deutschland und Belgien, mussten belgisch-deutsche Kontakte oft über die Niederlande laufen, sodass es in der Zeit zu einer Art Dreiecksbeziehung kam.[13] Es darf wohl die Frage gestellt werden, ob und wenn ja, inwiefern das Belgische Format von Kongress und Ausstellung als Vorlage für Düsseldorf diente? Leider müsste eine Antwort, trotz des interessanten Vergleichs, spekulativ bleiben.

 

Die Teilnahme von Jozef Peeters an der „I. Internationalen Kunstausstellung Düsseldorf 1922“ im Kaufhaus Tietz ging auf eine Einladung des Antwerpener Kreises durch Rudolf Belling und die Novembergruppe zurück.[14] Im Gegensatz zu der recht großen Zahl deutscher Künstler, die zuvor in Antwerpen ausgestellt waren, fiel der Beitrag der Antwerpener in Düsseldorf recht bescheiden aus. Neben Peeters selbst wurden Werke des damals noch und heute wieder unbekannten, soeben von Peeters ‚entdeckten‘ Jan Hubert Wolfs gezeigt. Ein Gemälde Peeters ist immerhin im Katalog abgebildet (Abb. 4) und gibt diesem so besonderes Gewicht. Zu erwarten gewesen wäre nun, dass Peeters auch zum Kongress nach Düsseldorf gefahren wäre. Dem war nicht so, allerdings lassen Briefe darauf schließen, dass Peeters durch Anwesende gut über die Ereignisse informiert war. Sein Name fehlt auch unter dem Manifest van de Konstruktivistische Internationale beeldende Arbeidsgemeenschap,[15] das für Belgien wiederum Karel Maes unterzeichnete, obwohl hierfür ursprünglich – oder gleichzeitig – Peeters durch Vilmos Huszar kontaktiert worden war.[16] Glaubt man Peeters, dann habe van Doesburg nicht nur seine Rolle beim Düsseldorfer Kongress in einem wesentlich vorteilhafteren Licht gezeichnet als sie tatsächlich war, sondern auch in beiden Fällen (Düsseldorf und Weimar) die jungen – und nach Meinung Peeters, unbedarften – Belgier Maes und Mesens in Abwesenheit und ohne ihr Wissen und Zutun benutzt, um sich selbst eine stärkere Position zu verschaffen.[17]

 
Abb. 4 Katalog der I. Internationalen Kunstausstellung Düsseldorf 1922, Abbildung Gemälde Jozef Peeters, Brüssel, Bibliothek der Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique. [Bildquelle: © SABAM / VG Bild-Kunst]

Karel Maes galt als rechte Hand Peeters, hatte aber ebenfalls sein eigenes (Brüsseler) Netzwerk. Der junge Musiker E.L.T. Mesens, der auch dadaistische Gedichte schrieb, stand mit dem Kring seit 1921 in Kontakt. Karel Maes kannte E.L.T. Mesens bereits von der Schulbank und hatte diesen u.a. bei René Magritte und seinen Freunden den Brüdern Bourgeois eingeführt. Aus dieser Gruppe entstand 1922 die Gruppe und Wochenzeitschrift 7Arts, und etablierte sich als wichtiger neuer, komplementärer Akteur auf der belgischen und internationalen Bühne, der eine bedeutende Brücke nach Deutschland schlug. 7Arts vertrat einen inklusiven Kunstbegriff, der jegliche Hierarchien und Ausgrenzungen aus- und Kunstformen von Malerei über Musik und Architektur bis zum Film einschloss. Eine radikale Neubewertung der künstlerischen Produktion sowie deren Demokratisierung waren Teil dieses Konzeptes ebenso wie eine Nähe zum internationalen Konstruktivismus. Mesens z.B. hatte eigene Kontakte zu van Doesburg, von dem er allerdings vor allem dessen dadaistisches alter ego I.K. Bonset schätzte. Die Brüsseler Neugründung lief in zeitlicher Nähe zum Düsseldorfer Kongress ab. Die Erwähnung des Namens von Karel Maes auf der Düsseldorfer Namensliste und als Unterzeichner des Manifestes steht womöglich dafür, dass er sich entgegen der landläufigen Fachmeinung hier von Peeters und dem Kring Moderne Kunst emanzipierte. Nicht zuletzt sind es 7Arts-Künstler, die zwischen 1925 und 1928 in Berlin bei der Novembergruppe und im Sturm ausstellen.

 

Auch wenn 7Arts sich nun etablierte und van Doesburgs Initiativen besonders erfolgreich schienen, nutzte Jozef Peeters als talentierter Netzwerker ebenfalls den Schwung der durch die Düsseldorfer Initiative in die internationale Avantgarde kam. Er baute im Verlaufe des Jahres 1922 sein Netzwerk nach Deutschland und Mittel- bzw. Osteuropa weiter aus und bekam über Adolph Behne ein Reisevisum für einen Berlinaufenthalt Ende desselben Jahres. Ganz allgemein ist ab Mitte 1922 eine stärkere Einbindung der Belgier in die internationale Avantgarde zu erkennen, u.a. zu Russen und Ungarn. Gleichzeitig lag hierbei ein Schwerpunkt auf abstrakten und konstruktivistischen Kunstformen, was einen direkten Bezug zum Jungen Rheinland ausschloss.

 

Von der Revolution der Künstler zum Kunsttransfer durch Handel

Die begleitend zum Düsseldorfer Kongress organisierte „I. Internationale Kunstausstellung 1922“ war mehr als eine Boykottveranstaltung. Sie nahm die Idee der großen internationalen Übersichtsausstellungen wieder auf.[18] In ihr spiegelt sich nicht nur der schwierige gesellschaftspolitische Kontext, sondern auch die Ambivalenz zwischen dem Anspruch an der Utopie der neuen Welt mitzuwirken und der jungen Kunst einen unabhängigen Platz im Kunstgeschehen zu sichern, einerseits, und der Angewiesenheit der meisten Künstler auf die Unterstützung, wenn schon nicht des Kunstetablissements, dann aber doch von Privatvermögen und Kunsthandel, andererseits. Die Teilnahme belgischer Künstlerinnen und Künstler zeigt diese Ambivalenz. Waren Peeters und Wolfs durch die – besonders gut organisierte – Novembergruppe in die Düsseldorfer Ausstellung gelangt, muss man die Aufnahme von Marthe Donas einerseits und Frans Masereel andererseits dem Einfluss der Galeristen Herwarth Walden und Alfred Flechtheim zurechnen.

 

Die Düsseldorfer Ausstellung nahm so eine Entwicklung voraus, in der sich ab 1922/23 wieder eine verstärkte Einflussnahme des Kunsthandels zeigte. Aus ökonomischer Notwendigkeit heraus suchten die revolutionären Künstler einen weniger rebellischen Kompromiss, was Gruppen wie dem Jungen Rheinland oder der Novembergruppe ein relativ langes Überleben sicherte. Während die belgischen Künstlerkreise sich weder vor, noch während oder nach dem Kongress mit dem Jungen Rheinland selbst austauschten und danach kurz versuchten ihre eigenen Utopien doch noch im Netzwerk mit vor allem Berliner Gruppen zu verwirklichen, waren es ab 1922 belgische Galeristen die Künstler des Jungen Rheinland nach Belgien brachten – und in viel geringerem Maße umgekehrt. Diese Galeristen sind vorrangig als Vermittler und nicht als Kunsthändler zu bezeichnen. Drei Namen stechen auf belgischer Seite hervor: Geert van Bruaene, Paul-Gustave van Hecke und Walter Schwarzenberg, zu denen sich als Wegbegleiter André de Ridder, Paul van Ostaijen und der bereits erwähnte E.L.T. Mesens gesellen. Die 1920 gegründete Brüsseler Galerie Sélection. Atelier d’Art Contemporain war wohl Ausgangspunkt für diese Hauptakteure. Diese schloss 1922 zwar bereits wieder, aber deren gleichnamige Zeitschrift bestand bis 1933 und blieb ein wichtiges Organ in Belgien. Es wurde neben den flämischen Expressionisten auch französischer Kubismus vertreten, u.a. die Section d’or. Ab 1923 öffnete man sich auch neueren Kunstformen und einem internationalen Netzwerk, aber bereits 1926 fand erneut ein Rückzug auf das Eigene, vor allem einer flämischen Bildtradition, statt. Sucht man nach deutschen Bezugspersonen, so ergibt der jetzige Forschungsstand vor allem eine stetige Verbindungslinie zur Galerie Alfred Flechtheim (Abb. 5).

 
Abb. 5 Seite aus dem "Querschnitt" mit Anzeige für Sélection, 1922.

Geert van Bruaene (1891-1964)[19] ist heute am wenigsten archivalisch fassbar, steht aber zentral für die Beziehungen zu Künstlern des Jungen Rheinland. Er war zunächst während des Krieges im flämischen Theater als Schauspieler tätig. Aus dieser Zeit datiert auch seine Bekanntschaft mit Paul-Gustave van Hecke. Aufgrund des aktivistischen Hintergrunds seiner Theatertätigkeit während der Besatzung, verließ van Bruaene 1918 zunächst Belgien – angeblich nach Berlin. Hierüber ist so gut wie nichts bekannt. Ab 1920 war er zurück in Belgien und versuchte sich ein erstes Mal mit einer ‚boutique d’art‘, bevor er zunächst wieder am Theater spielte. Schließlich gründete er 1923 erneut eine Kunstgalerie: das Cabinet Maldoror. Centrale d’Art Plastique, „organisme internationaliste et indépendant destiné à propager les productions significatives des grands artistes de l’expression contemporaine, sans souci de tendance. »[20] Parallel dazu gab es das Cabinet graphique. Zwei Jahre später schon gründete er eine weitere, neue Galerie: A la Vierge Poupine, die vor allem den Surrealismus unterstützte. Van Bruaene war kein Kunsthändler im klassischen Sinne und im Grunde herzlich wenig am kommerziellen Erfolg seiner Unternehmungen interessiert. Wohl aber stellte er als einer der ersten Galeristen deutsche Künstler aus: So lesen wir in der kurzlebigen Zeitschrift Oesophage, dass in van Bruaenes Galerien “kühnste Maler“[21] zu sehen seien: Dix, Grosz, Klee, Schlemmer, Seiwert, Beckmann, Campendonk. Tatsächlich werden im November 1924 im Cabinet graphique u.a. Werke von Dix und Kokoschka gezeigt, im Monat danach im Petit Maldoror Graphik von Heinrich Campendonk und im Maldoror du Ravenstein ein expressionistisches Gemäldeensemble von Constant Permeke, Jankel Adler und Franz Wilhelm Seiwert, das in mehreren Artikeln in verschiedenem Tenor besprochen wurde[22]. Wenig erstaunlich hob der Maler Pierre-Louis Flouquet Seiwert hervor, während de Ridder eher an Adler Gefallen fand. Kurz darauf folgte eine Ausstellung der Folge „Der Krieg“ von Otto Dix im Cabinet graphique.[23] Des Weiteren finden sich in verschiedenen Zeitschriftennotizen Hinweise auf grafische Werke von Paul Klee, Wassily Kandinsky, Lyonel Feininger, Laszló Moholy-Nagy und Oskar Schlemmer. Bereits 1922 hatte van Bruaene auch Kontakt zu Gert H. Wollheim, wie aus einer Aussage van Bruaenes und aus einem von Wollheim angefertigten Porträt hervorgeht (Abb. 6). Dieser hatte im Mai 1924 mit weiteren Künstlern aus dem Netzwerk des Jungen Rheinland, darunter Fritz Burmann, Jankel Adler, Franz Radziwill, Adolf Uzarski sowie Otto Dix,[24] an einer internationalen Ausstellung im Cabinet Maldoror teilgenommen. 1926 stellte er auch in der von Paul-Gustave van Hecke gegründeten Galerie L’Epoque[25] aus und im gleichen Jahr war er bei Walter Schwarzenberg zu sehen. Dieser hatte bereits 1921 die Galerie Le Centaure eröffnet und war ab Mitte der 1920er Jahre neben Van Hecke der bedeutendste belgische Förderer deutscher Kunst. Als er 1932 in Konkurs ging und seine gesamte Sammlung versteigert wurde, befanden sich nicht weniger als acht Werke Wollheims darunter. In einem Fälscherprozess aus dem Jahr 1943 stand augenscheinlich eines dieser Werke im Zentrum. Van Bruaene sagte hier als Zeuge aus und wird in einem Zeitungsbericht spöttisch zitiert:

„[….] je déclare que ce tableau est l'un des plus admirables chefs-d'oeuvre des temps modernes [...] – Il n'y a pas de quoi rigoler! Ce splendide tableau, dans quelques années, les musées se l'arracheront. Il vaudra des centaines de milliers de francs! Ce qu'il représente n'a rien de commun avec sa qualité picturale!"[26]

 
Abb. 6 Gert H. Wollheim, Porträt von Geert van Bruaene, 1923, Öl auf Leinwand, 65,5 x 86,5 cm, LVR-Landesmuseum Bonn. [Bildquelle: Foto: Jürgen Vogel, © Nachlass Gert H. Wollheim - Jutta Osterhof]

Wie van Bruaene in Kontakt mit Wollheim und den anderen deutschen Künstlern kam, liegt noch im Dunkeln. Einerseits arbeitete Paul van Ostaijen mit seinen engen Kontakten zu Heinrich Campendonk, Arnold Topp und anderen als Co-Direktor für das Cabinet Maldoror[27] und es gab Kontakte mit Lumière, d.h. auch mit dem mit Seiwert befreundeten Minne. Andererseits lassen die Namen der Künstler, die zunächst bei van Bruaene, dann ab 1926 in den Unternehmungen van Heckes und Schwarzenbergs auftauchen, den Rückschluss auf Alfred Flechtheim zu.

 

Zu diesen Künstlern gehörte ab 1926 auch Max Ernst, der mit La Vierge Poupine (van Bruaene und Camille Goemans) einen Vertretungsvertrag schloss. Das nun einsetzende Interesse am Werk Max Ernsts ist nur konsequent in der Entwicklung dieses belgischen Netzwerkes von Kunsthändlern und Zeitschriftenherausgebern, die sich nach einem breit begriffenen Expressionismus immer mehr dem Surrealismus zuwandten. André de Ridder, Mitherausgeber von Sélection,zählte dabei zu den deutschen Surrealisten nicht nur Max Ernst, sondern auch Arp und Wollheim.[28] Dem wurde sogleich widersprochen: Der Surrealismus sei keine Schule … und man müsse daher die Abgrenzungen definieren, weder Magritte noch Wollheim seien Surrealisten.[29] Eine Diskussion des belgischen Surrealismusbegriffes um 1926 führt hier zu weit. Mitzunehmen ist aber, dass das Interesse an bestimmten deutschen bzw. in Deutschland arbeitenden Künstlern sich aus einem Umschwung in der belgischen Kunst motivierte. Dieser zeigte sich in dem aus Sélection entstandenen Kreis in einem Übergang, der die Grenzen zwischen einem (breit definierten) Expressionismus, dem sogenannten „retour à l’ordre“ und dem beginnenden Surrealismus verschwimmen ließ.[30] So steckte in den zahlreichen belgischen Ausstellungen von Werken Kandinskys und Klees das Ringen um eine Verortung des belgischen Surrealismus, nicht zuletzt auch in gewissen expressionistisch-abstrakten Strömungen.

 

Alfred Flechtheim und Belgien

Der Name Paul Klee führt uns auf Alfred Flechtheim[31] zurück, der 1929 verantwortlich für die Klee- und Renée Sintenis-Ausstellung in der Galerie Le Centaure zeichnete. Man muss Flechtheim ebenfalls hinter der Max Beckmann-Ausstellung vermuten, die 1931 von der Galerie de la Renaissance aus Paris nach Brüssel kam. Die Verbindungen von Alfred Flechtheim nach Belgien reichen bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück. Bereits um 1911/12 hatte er Kontakte zu dem Künstler Ferdinand Schirren, der auf seine Einladung 1912 nach Düsseldorf und Köln kam.[32] Schließlich nahm Flechtheim 1913 George Minne und William Degouve de Nuncques in das Portfolio seiner Galerie auf und vertrat beide Künstler in Deutschland. Während seiner Stationierung in Belgien im Ersten Weltkrieg betätigte er sich in wohl weniger rühmlicher Weise als Kunsthändler. Hier kam er nun in Kontakt zu dem Kreis um den Schriftsteller Carl Sternheim und seine Frau Thea. Diese Verbindungen blieben auch nach dem Kriege wichtig und die Präsenz Franz Masereels in Flechtheims Galerie ging hierauf zurück. Zeitgleich zur „I. Internationalen Kunstausstellung 1922“ in Düsseldorf, auf der eins seiner Werke gezeigt wurde, war Masereel erstmals in Flechtheims Berliner Galerie zu sehen, kurz darauf auch im Düsseldorfer Hauptsitz. Im von Flechtheim gegründeten Querschnitt erschienen seine Holzschnitte ebenfalls ab 1921. Flechtheim hatte zu diesem Zeitpunkt nicht nur Kontakte zu Carl Sternheim, sondern auch zur Brüsseler Gruppe Sélection um Paul-Gustave van Hecke und André de Ridder, in deren Zeitschrift gerade im Jahr 1922 ein erster ausführlicher, von Paul Westheim verfasster Artikel zu den Grundlagen der zeitgenössischen deutschen Kunst publiziert wurde. Erwähnenswert ist dieser Aufsatz nicht nur deshalb, weil er fast parallel zur „I. Internationalen Kunstausstellung 1922 erschien und sich u.a. auf die Sonderbundausstellung von 1912 bezog, sondern weil es ein Pendant aus dem Jahr 1931 gibt. Hier veröffentlichte Westheim in den Cahiers d’Art eine gleichartige Übersicht über die ‚neue‘ Kunst in Deutschland anlässlich einer groß angelegten internationalen Ausstellung in Brüssel. In dieser Ausstellung war die deutsche Abteilung, auf die sich Westheim bezog, von Alfred Flechtheim in Zusammenarbeit mit Paul-Gustave van Hecke organisiert worden und der Großteil der ausgestellten Werke wurden von ihren Galerien und derjenigen Schwarzenbergs zur Verfügung gestellt. Einige Werke kamen von Sammlern wie Dr. Hans Koch, Alfred-Leonhard Tietz, Baronin von der Heydt oder Alexander Vömel und eines aus dem Düsseldorfer Kunstmuseum (Otto Dix, „Portrait des Dichters Herbert Eulenberg“), weitere Werke aus belgischen Privatsammlungen. Infolgedessen kam es 1932 zu einer Retrospektive von George Grosz (Brüssel und Gent), als letzte ‚deutsche‘ Ausstellung vor dem Zweiten Weltkrieg.

 

Flechtheim war es auch der von den bei der Ausstellung im Kaufhaus Tietz gehaltenen Eröffnungsreden, diejenige von Paul Colin in seinem Querschnitt abdruckte und so seine Verbindungen nach Belgien unterstrich. Dies entsprach noch einmal der von ihm übernommenen Position aus dem Jahr 1919, in dem er seine Galerie mit einer programmatischen Ausstellung, in deren Katalog auch das Programm des Jungen Rheinland abgedruckt wurde, wiedereröffnete. Ganz allgemein bezog der Katalog in Beiträgen Position in der Auseinandersetzung um die Rolle der Zeit. In der späteren Brüsseler Ausstellung L’art vivant en Europe, wurde ‚lebende Kunst‘ oder ‚lebendige Kunst‘ mit ähnlichen Ideen assoziiert wie junge Kunst im Rheinland über zehn Jahre zuvor: anti-akademisch, aber auch plastisch-dynamisch im Gegensatz von oberflächenstatisch – was wohl als konstruktivistisch zu lesen ist –, sei es eine aus freien Stücken revolutionäre Kunst, der die Revolution an sich gleichgültig blieb. In diesem Brückenschlag von 1922 zu 1931 wird eine vor allem figurative oder zumindest auf der sichtbaren Wirklichkeit basierenden Kunst gefördert, die meist im Expressionismus verwurzelt war. Der Überblick über die in Schwarzenbergs Sammlung 1932 enthaltenen Werke deutscher Künstler ist dabei repräsentativ für die von den Belgiern unterstützte deutsche Kunst: Carlo Mense, Josef Eberz, Conrad Felixmüller, (2x) George Grosz, (3x) Otto Dix, (3x) Jankel Adler (Abb. 7), (8x) Gert H. Wollheim (Abb. 8), (10x) Heinrich Campendonk und (39x) Max Ernst. Hinzu kamen einige Werke aus dem Galeriebestand (Abb. 9).

 
Abb. 7 Jankel Adler, Angelika, 1923, Öl auf Leinwand, 106 x 60 cm, Wuppertal, Von-der Heydt Museum, vormals Sammlung Schwarzenberg, ausgestellt 1931 in Brüssel. [Bildquelle: Bildzitat aus: Von der Heydt-Museum. Die Gemälde des 19. und 20. Jahrhunderts, Wuppertal 2003, S. 349; © VG Bild-Kunst]
Abb. 8 Gert H. Wollheim, Zimmergymnastik, 1923, Aquarell, Gouache und Buntstift auf Papier, 39,5 x 49 cm, Privatbesitz, vormals Sammlung Schwarzenberg, bis 1990 in belgischem Privatbesitz. [Bildquelle: Foto: KIK-IRPA/ ©Nachlass Gert H. Wollheim - Jutta Osterhof]
Abb. 9 Max Ernst, Le crabe [Der Krebs] (1926), Öl auf Leinwand, 81 x 100 cm, Brüssel, Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, aus dem Bestand der Galerie Le Centaure, ausgestellt 1928 in Brüssel und 1929 bei Alfred Flechtheim. [Bildquelle: Foto: MRBAB/J. Geleyns – Art Photography, ©ADAGP/ VG Bild-Kunst]

Mangels belastbaren Archivmaterials kann nur vermutet werden, ob und inwiefern die Düsseldorfer Ausstellung von 1922 auf die Zusammenarbeit zwischen den belgischen Galerien und Flechtheim, und in geringerem Maße der Kölner Galerie Becker-Newman, Einfluss hatte. Die Kooperation erschließt sich vor allem aus den Künstlernamen, den Daten bestimmter Ausstellungen und aus Abbildungen. Auch ist deutlich, dass diese mit Ausnahme von Masereel erst ab 1922 fassbar ist. Flechtheim, der Vermittler französischer Kunst nach Deutschland, scheint für Belgien vor allem der Vermittler deutscher Kunst ins Nachbarland gewesen zu sein – nicht oder nur sehr bedingt umgekehrt.[33] Nicht nur mit den Künstlern seiner Galerie, sondern auch mit dem von ihm erdachten Format einer Galeriezeitschrift konnte er in Belgien Einfluss nehmen: Die von Paul-Gustave van Hecke über zwei Jahre herausgegebene Zeitschrift Variétés ging eindeutig auf den Querschnittzurück.[34] Van Hecke entwickelte das Format aber weiter in Richtung einer ‚kuratierten‘ Zeitschrift. Der Kunsthändler taucht schließlich auch als Sammler auf – unter anderem von Werken Max Ernsts, mit dem er befreundet war (Abb. 10). Eines der Hauptwerke aus der Sammlung van Heckes war das 1926 in Köln ausgestellte Gemälde „La vierge corrigeant l’enfant Jésus Christ“ (Abb. 11).

 
Abb. 10 Paul-Gustave und Norine Van Hecke mit Max Ernst, ca. 1928, Brüssel, Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Archives de l’Art contemporain en Belgique.
Abb. 11 Wohnzimmer des Ehepaars Van Hecke in Brüssel, 11 Avenue du Congo, mit dem Gemälde Max Ernsts im Hintergrund. [Bildquelle: Bildzitat aus: L'Animateur d'art Paul-Gustave van Hecke (1887-1967) et l'avant-garde, hg v. Virginie Devillez, Bruxelles / Gand / Courtrai 2012, S. 63.]

(Vorläufige) Schlussfolgerung

Zwar kann man nicht von einer direkten Beziehung zwischen Belgien und dem Jungen Rheinland als Gruppe sprechen, dennoch sind ab 1922 die Bezüge zu einzelnen Künstlern vielfältig und offenbaren ein zum Teil eng verwobenes Netz von persönlichen Kontakten. Der Kongress und die Union internationaler fortschrittlicher Künstler kamen für die Belgier zudem zu einem entscheidenden Zeitpunkt als nämlich neue Initiativen entstanden, andere um ihre Stellung kämpften und sich der Anschluss an internationale Gruppen ausbreitete. Diese Umbrüche spiegeln sich im Verhältnis der Belgier zur Union und zur „I. Internationalen Kunstausstellung Düsseldorf 1922“ wider und ordnen sich allgemeiner in internationale Entwicklungen ein. Deutlich zu erkennen ist im Verlauf auch eine Tendenz des Rückgangs von auf Künstlerinitiativen gründenden Kunst- bzw. Kulturtransfers und Ausstellungen, die stetig vom Kunsthandel übernommen werden. Dies erklärt sich einerseits aus der sich beruhigenden wirtschaftlichen und politischen Lage und einer Wiederaufnahme der Wirtschaftsbeziehungen, andererseits aus einem Verlust an revolutionärem Elan. 1932, als auch der Kunsthandel in die wirtschaftliche Krise gerissen wurde, schließt sich ein Kapitel. Das ‚danach‘ ist u.a. vom belgischen Exil Karl Schwesigs und Lotte B. Prechners oder den Nachkriegsausstellungen Jankel Adlers und der durch den Brüsseler Museumskurator Paul Fierens verantworteten Monographie über diesen Künstler geprägt.