Vom Sonderbund zum Jungen Rheinland – Kontinuität und Veränderung

Patricia Nünning

„Das Schicksal des ‚Sonderbunde‘ mag uns eine Lehre sein.“[1] Diesen Leitsatz formuliert Das Junge Rheinland im Vorwort seiner ersten Ausstellung. Auch heißt es zu Gründungszeiten, Das Junge Rheinland sei eine „Neuauflage des Sonderbundes“[2]. Tatsächlich sind einige grundsätzliche Parallelen ausmachbar: Der Ursprung beider Vereinigungen liegt – mit einem Abstand von rund zehn Jahren – in Düsseldorf. Beide treten für die Etablierung rheinischer, zeitgenössischer Kunst ein. Und beide kämpfen mit den widrigen Umständen ihrer Zeit, die der modernen Kunst eher ablehnend gegenübersteht.[3] Angesichts dessen könnte sich Das Junge Rheinland – nach der Unterbrechung durch den Ersten Weltkrieg – als Nachahmer des Sonderbundes begreifen. Doch finden sich in den ersten schriftlichen Positionierungen des Jungen Rheinland Äußerungen, die einen Bruch mit dem Sonderbund offenbaren. Es stellt sich somit die Frage, welche Konsequenzen Das Junge Rheinland aus der Auseinandersetzung mit dem Sonderbund für sich zieht.

Die Untersuchung beginnt mit der Frage nach dem bestehenden Zusammenhang zwischen dem Jungen Rheinland und dem Sonderbund: Inwiefern ist Das Junge Rheinland im Sonderbund verankert? Daraus kann im Folgenden auf den Kenntnisstand der „Jungen Rheinländer“ über den Sonderbund geschlossen werden. In einem zweiten Schritt werden die Kritikpunkte des Jungen Rheinland am Sonderbund ermittelt und in ihrer Entstehung hinterfragt. Dies dient als Basis der Untersuchung, wie sich die Auseinandersetzung mit dem Sonderbund letztendlich in Programmatik und Organisation des Jungen Rheinland niederschlägt. Ziel ist es, zu ermessen, inwiefern der Sonderbund für Das Junge Rheinland als identitätsstiftender Bezugspunkt diente.

Zur Beantwortung dieser Fragen werden der Aufruf an die jungen rheinischen Künstler[4], der 1918 zu Gründungszwecken verfasst wurde, und die Satzungen des Jungen Rheinland analysiert.[5] Ebenso werden das Katalogvorwort zur ersten Ausstellung,[6] ein dazu verfasstes Begleitwort Karl Koetschaus[7] und ein Beitrag Richart Reiches zur ersten Wanderausstellung des Jungen Rheinland berücksichtigt.[8]

 
Abb. 1 Das Junge Rheinland, Satzung 1 [Bildquelle: © Generallandesarchiv Karlsruhe, Signatur 441-3 Nr. 1052, es gelten die Veröffentlichungs- und Vervielfältigungsrechte des Landesarchivs Baden-Württemberg.]
Abb. 1a Das Junge Rheinland, Satzung 2 [Bildquelle: © Generallandesarchiv Karlsruhe, Signatur 441-3 Nr. 1052, es gelten die Veröffentlichungs- und Vervielfältigungsrechte des Landesarchivs Baden-Württemberg.]
Abb. 1b Das Junge Rheinland, Satzung 3 [Bildquelle: © Generallandesarchiv Karlsruhe, Signatur 441-3 Nr. 1052, es gelten die Veröffentlichungs- und Vervielfältigungsrechte des Landesarchivs Baden-Württemberg.]

Vom Sonderbund zum Jungen Rheinland: personelle Kontinuitäten

Dem Sonderbund gelang mit seiner vierten Ausstellung, der „Internationalen Kunstausstellung […] zu Cöln 1912“,[9] die wichtigste Präsentation europäischer Kunst der Moderne vor dem Ersten Weltkrieg.[10] Die Ausstellung erklärte den Expressionismus als lineare Entwicklung aus der internationalen Kunstgeschichte und sorgte für einen Wendepunkt im Schaffen vieler dort vertretener Künstlerinnen und Künstler.[11] Rund sechs Jahre nach der Ausstellung und den einschneidenden Erfahrungen des Ersten Weltkrieges muss von den Erinnerungen an die Zeit des Sonderbundes eine besondere Wirkung ausgegangen sein.

Einige Mitglieder des Jungen Rheinland, die schon im Sonderbund aktiv gewesen sind, sorgen in der Gründungsphase für eine personelle Verzahnung der Gruppierungen. Es handelt sich um 19 Künstler, die 1912 im Rahmen des Sonderbundes ausstellten, und die gleich zu Beginn auch zum Jungen Rheinland hinzustoßen.[12] Dabei schließen sich auch einige Künstler aus der ursprünglichen Kerngruppe des Sonderbundes dem Jungen Rheinland an – Julius Bretz, Otto und Alfred Sohn-Rethel, Walter Ophey, Otto von Wätjen, Ernst te Peerdt und Christian Rohlfs.[13] Ophey sowie O. Sohn-Rethel beteiligen sich als Juroren in der neu gegründeten Vereinigung; Ernst te Peerdt und Christian Rohlfs werden vom Jungen Rheinland als Ehrenmitglieder ausgezeichnet – ein Titel, den Te Peerdt bereits im Sonderbund trug.[14] Besonders hervorzuheben ist, dass auch einer der Initiatoren des Jungen Rheinland bereits im Sonderbund involviert war: Herbert Eulenberg, einer der Verfasser des Aufrufs an die jungen rheinischen Künstler von 1918, fungierte im Sonderbund als literarischer Beirat und Vorstandsmitglied (Abb. 1).[15] Als beratende Vorstandsmitglieder des Sonderbundes sind Walter Cohen und Richart Reiche, der später Das Junge Rheinland ins Museum Barmen holte, zu erwähnen.[16] Beide engagieren sich im Jungen Rheinland im beratenden Ausschuss und in der Hängekommission.[17] Alfred Flechtheim, ehemals Schatzmeister im Vorstand des Sonderbundes, [18] wird im Jungen Rheinland bei Gründung der Vereinigung ebenfalls in den beratenden Ausschuss berufen, was auch auf seine herausragende Rolle als Vermittler und Leihgeber zurückzuführen ist.[19] Nicht zuletzt gehört auch Carl Ernst Osthaus, erster Vorsitzender im Sonderbund, diesem Ausschuss im Jungen Rheinland an.[20] Hieraus wird deutlich, dass die Erfahrungen aus der Zeit des Sonderbundes unmittelbar in Das Junge Rheinland hineingetragen wurden. Es beteiligen sich 1918/1919 also Akteure an der Gründung des Jungen Rheinland, die über die Entwicklung und die Geschehnisse innerhalb des Sonderbundes bestens Bescheid wussten.

 
Abb. 2 Mitglieder des Sonderbund-Vorstandes, 1910, Fotograf: Jac. Peters Nachf., Düsseldorf, Gruppenbild im Saal 15 der Ausstellung von 1910 von rechts: NN, Alfred Flechtheim, Max Clarenbach, August Deusser, Karl-Ernst Osthaus, Wilhelm Niemeyer, Herbert Eulenberg NN. Im Hintergrund das Gemälde "Antike Szene" von Karl Hofer (Sonderbund-Katalog Nr. 84) [Foto: © Rheinisches Archiv für Künstlernachlässe, Signatur 111 - F 168-1]

Machtverteilung im Sonderbund – Konsequenzen für das Junge Rheinland

Die untersuchten Quellen, in denen sich die neue Künstlergruppe präsentiert, sind von Bezugnahmen auf den Sonderbund durchzogen. Als ideeller Anknüpfungspunkt stellt der Sonderbund eine positive Bezugsgröße dar. Seine Bemühungen wollen vom Jungen Rheinland wiederaufgenommen und sogar in verbesserter Form erfüllt werden. Man sieht sich als ‚Frucht‘ des Sonderbundes.[21] Dennoch handelt es sich dabei um keine vorbehaltslose Anlehnung. Denn nur „Was gut und fördernd an ihm war, soll wieder aufleben“.[22]

 

Den Schwerpunkt in den untersuchten Texten bilden negative Stellungnahmen. Man könnte meinen, es werde mit dem Sonderbund abgerechnet: In den Texten besonders stark vertreten ist die Kritik an parteilichen Einflussnahmen, die im Sonderbund zu Bevorzugungen und Benachteiligungen geführt haben. So wird im Gründungsaufruf des Jungen Rheinland wiederholt betont, dass keine einseitige Förderung einer bestimmten Richtung stattfinden dürfe. Es solle nicht dazu kommen, dass ein Künstler auf Grund einer Juryentscheidung keine Ausstellungsmöglichkeit bekomme.[23] Die befürchtete Parteilichkeit von Entscheidungsträgern kann insbesondere mit Problemen im Vorfeld der Sonderbundausstellung von 1912 erklärt werden. Die damalige Künstler- und Werkauswahl war in weiten Teilen von Willkür und Zufälligkeit geprägt, da sie auf persönlichen Kontakten und Netzwerken beruhte.[24] Auch überwogen die konservativen Tendenzen in der Jury, insbesondere vertreten durch August Deusser. Beispielhaft für die Unzufriedenheit mit Juryentscheidungen steht u.a. der Fall Franz Marcs, von dem Bilder entgegen vorhergehender Zusagen ausjuriert wurden. Zudem wurden Werke gegen den Wunsch einiger Künstler nach Nationalität – und nicht im Kontext ihrer Gruppenzusammengehörigkeit präsentiert. Dabei gerieten die Künstler mit den eigentlich die zeitgenössische Kunst unterstützenden Museumsdirektoren Richart Reiche und Alfred Hagelstange in Konfrontation.[25] Im Gegenzug tat sich Franz Marc mit Herwarth Walden zusammen, der parallel zur Sonderbundausstellung in seiner Berliner Galerie eine Ausstellung mit den von der Sonderbund-Jury refüsierten Werken ausrichtete.[26]

 

Im Katalogvorwort zur ersten Ausstellung des Jungen Rheinland wird „Monopolsucht“ als Vorwurf genannt.[27] Und Karl Koetschau lädt dazu ein, sich am Jungen Rheinland zu beteiligen, solange dies eben „ohne persönliche Machtansprüche“ geschehe.[28] Dies ist nur vor dem Hintergrund der Rolle August Deussers im Sonderbund Westdeutscher Kunstfreunde und Künstler zu verstehen: Dort sicherte er sich eine Sonderrolle, indem er als Hauptverantwortlicher für die Zusammensetzung des Führungsgremiums fungierte. Deusser räumte sich selbst einen Platz im Kunstvorstand ein, wodurch er tonangebend für die künstlerische Ausrichtung blieb und zur vierköpfigen Jury des Sonderbundes gehörte.[29] Obwohl die Jury gleichermaßen Künstler und Kunstfreunde repräsentierte, herrschte kein gleichberechtigtes Stimmrecht, da die Künstler Deusser und Clarenbach drei von fünf Stimmanteilen besaßen.[30] Zur Sonderrolle in der Verbandsführung kommt eine Bevorzugung als Künstler hinzu: Als einziger der Begründer des Sonderbundes erhielt Deusser 1912 einen eigenen Ausstellungsraum, den man als letztes – aber auch als erstes – betreten konnte.[31] Mehrere Museumsdirektoren, darunter Reiche und Hagelstange, nahmen im Vorfeld der Sonderbundausstellung Anstoß am Urteil der tonangebenden Künstler und forderten eine Juryerweiterung. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch an Deussers Widerstand.[32] Die Jury der Sonderbundausstellung von 1912 spaltete sich in zwei Lager: Die Kunsthistoriker Reiche und Hagelstange, die für die neuesten Strömungen der Kunst eintraten, und der Kreis um August Deusser, der sich damit nicht identifizieren konnte.[33]

 

Auf diesen Konflikt spielt das Vorwort zur ersten Ausstellung des Jungen Rheinland an: Hier geht der Beschreibung des neuen Vorhabens eine Warnung voraus. Es solle vermieden werden, nur einer „kleine[n] Künstlerclique“ die Mitsprache zu lassen.[34] Bereits im Gründungsaufruf wird von „Cliquenwirtschaft“ gesprochen, mit der „ein für allemal aufgeräumt“ werden solle.[35] Mit dieser ‚Künstlerclique‘ wird auf den erwähnten Kreis um Deusser angespielt. Bereits Ende 1911schlossen sich die Gründer des Sonderbundes zur Gruppe Die Friedfertigen zusammen.[36] Unter diesem Namen wollten sie sich ganz auf Düsseldorfer Künstler konzentrieren und der fortschrittlichen, internationalen Positionierung des Sonderbundes entsagen.[37] Richart Reiche polemisiert im Vorwort zur ersten Wanderausstellung des Jungen Rheinland: Als ‚Bund der Sanftmütigen‘ kehrten diese Maler, unfähig und nicht gewillt, im offenen Kampf der Geister zu bestehen, reumütig in den Schoß der dankbaren rheinischen Akademie zurück.“[38]

 

Gründung, Zielsetzung und Struktur des Jungen Rheinland

Wie eingangs zitiert, heißt es im Katalogvorwort zur ersten Ausstellung des Jungen Rheinland: „Das Schicksal des ‚Sonderbunde‘ mag uns eine Lehre sein.“[39] Vom Schicksal des Sonderbundes mag man sich auf Grundlage der bisherigen Ausführungen ein Bild machen können, doch welche ‚Lehre‘ hat Das Junge Rheinland daraus gezogen?

 

Gründung

Im Folgenden sollen die Gründung, die Zielsetzung und die Struktur des Jungen Rheinland vor dem Hintergrund der vorangegangenen Künstlervereinigung näher betrachtet werden. In seinen Anfängen ist die Teilnahme am Sonderbund vom Prinzip der Exklusivität gekennzeichnet. Besonders August Deusser, der Initiator, wählte die Künstlerkollegen mit kritischem Blick.[40] Im sog. Gründungsausschreiben des Sonderbundes heißt es, dass der ursprüngliche Kreis von Künstlern, der bereits zuvor zu Ausstellungen zusammengekommen war, im Fokus der Vereinigung stehen solle. Ausstellungsbeteiligungen weiterer Künstler würden nicht ausgeschlossen, müssten jedoch einer strengen Prüfung standhalten.[41] Die ursprüngliche Restriktivität im Sonderbund wandelt sich im Jungen Rheinland ins genaue Gegenteil: Bereits der Aufruf zur Gründung richtet sich an 45 Künstler, die in Zukunft auch selbst Einladungen zur Teilnahme am Jungen Rheinland aussprechen dürfen. Die Voraussetzungen für die Mitgliedschaft im Jungen Rheinland werden sehr weit gefasst. Einzig „Jugendlichkeit und Ehrlichkeit des Schaffens“ wird von den Künstlerinnen und Künstlern gefordert.[42] Explizit wird darauf hingewiesen, dass das Junge Rheinland viel breiter als der Sonderbund aufgestellt sein solle. Diese Offenheit solle Cliquenbildungen und einseitigen Einflussnahmen entgegenwirken.[43] Anders als der Sonderbund wird Das Junge Rheinland also nicht um eine bereits bestehende Kerngruppe gebildet. Alle Künstlerinnen und Künstler des Jungen Rheinland sind gleichberechtigt und stehen in Konkurrenz mit jedermann.

 

Zielsetzung

Als sich die Künstler des späteren Sonderbundes 1908 zusammenfanden, geschah dies im Spannungsfeld von konservativer und progressiver Malweise. Zusammen mit Künstlerkollegen organisierte Deusser Ausstellungen, in denen erstmals Werke zeitgenössischer, deutscher Künstler mit denen französischer Impressionisten konfrontiert wurden und diese so in einen internationalen Kontext einschrieben.[44] Bei der Erweiterung zum Sonderbund Westdeutscher Kunstfreunde und Künstler wurden die Ziele des Verbandes formuliert. Es heißt in dem sog. Gründungsausschreiben, dass man durch die Präsentation und Vermittlung aktueller Tendenzen der Kunst – insbesondere der Düsseldorfer Kunst –, Düsseldorf als Kunststadt wiederaufleben lassen wolle.[45] Rund zehn Jahre später geht Das Junge Rheinland auf diese Zielformulierung erneut ein und schreibt von einem ersten, gescheiterten Versuch, die Kunstszene Düsseldorfs und des Rheinlands überregional interessant zu machen.[46] Erklärtes Ziel ist nun, den „Faden der modernen rheinischen Kunstbestrebungen“ wieder aufzunehmen.[47] Der Zusammenschluss zum Jungen Rheinland soll Ausstellungsmöglichkeiten „ohne den Druck kunstfeindlicher Mächte“ eröffnen, da in den letzten Jahren von offizieller Seite junge, rheinische Künstler bei repräsentativen Ausstellungsgelegenheiten übergangen worden seien.[48] Einen grundlegenden Unterschied zwischen den Zielsetzungen der Vereinigungen gibt es aber doch. Denn der Sonderbund formuliert die Intention, in seinen Werkpräsentationen eine Verbindung zur überregionalen Avantgarde schaffen zu wollen. Er setzt fest, dass den Düsseldorfer Arbeiten immer auswärtige Kunst an die Seite gestellt werden solle.[49] Das Junge Rheinland jedoch bildet sich ganz aus dem Interesse der örtlichen Künstlerschaft. Eine Einbindung auswärtiger Kunst wird nicht formuliert.

 

Struktur

Die geplante Organisation des Jungen Rheinland wird im Aufruf 1918 genau beschrieben und spezifiziert sich in den Satzungen. Im Folgenden soll entfaltet werden, inwiefern und weshalb zwischen den Vereinsorganen des Jungen Rheinland und denen des Sonderbundes entscheidende Unterschiede zutage treten.

 

Das Auswahlgremium: Die gezähmte Jury

Der Anspruch des Jungen Rheinland auf Gerechtigkeit führt zu einem weitaus komplizierteren Jurysystem als im Sonderbund. Dieser war bis zu seiner Erweiterung zum Sonderbund Westdeutscher Kunstfreunde und Künstler sogar ganz ohne Ausstellungsjury ausgekommen.[50] Es kommt im Jungen Rheinland zur Bildung sieben nebeneinanderstehender, sich rein aus Künstlern bildender Unterjurys, deren Obmänner sich wiederrum zu einer ‚Zentraljury‘ zusammenfügen. Das System führt zu einem doppelten Rechtfertigungszwang der Juroren, da die Werkauswahl in den jeweiligen Unterjurys zum Konsens führen und vor der zentralen Jury als der letzten Instanz erneut Bestand haben muss. Die Unterjurys werden nach Kunstgattungen unterteilt in Malerei, Graphik, Plastik, Bau- und Gartenkunst sowie angewandte Kunst. Maler und Graphiker können sich der ‚gemäßigten‘ oder der ‚extremen‘ Richtung zuordnen, die je eine eigene Jury erhält.[51] Besondere Erwähnung findet im Gründungsaufruf die Sorge vor ungerechten Entscheidungen. Von der Jury zurückgewiesenen Arbeiten sollen deshalb separat zugewiesene Räumlichkeiten bereitgestellt werden.[52] Diese Idee hat wohl ihren Ursprung in der erwähnten Protestaktion Marcs, für den Herwarth Walden 1912 die Ausstellung mit dem Untertitel Zurückgestellte Bilder des Sonderbundes organisierte.[53] Diese Ausstellung verleibt sich Das Junge Rheinland ein, tituliert sie als „Ausstellung der Zurückgewiesenen, und verankert sie institutionell in ihren Satzungen.[54]

 

Die operativen Kräfte: Beratender Ausschuss mit Hängekommission und Marketing

Der beratende Ausschuss des Jungen Rheinland und die beratenden Vorstandsmitglieder des Sonderbundes setzen sich beide aus Nicht-Künstlern zusammen und weisen mit Walter Cohen und Richart Reiche zwei identische Mitglieder auf. Während im Sonderbund nur fünf Personen zu diesem Kreis gehören, verliert die Stimme des Einzelnen im Jungen Rheinland jedoch an Gewicht, da fast dreimal so viele Personen in den Ausschuss einberufen werden.[55] Betont wird im Aufruf, dass auch vom beratenden Ausschuss nur unparteiische Arbeit erwünscht sei. Aus ihm solle eine Presse-Kommission samt Pressevertreter und eine Hängekommission gebildet werden. Die auf drei Personen angesetzte Hängekommission wählt sich sieben Künstler an ihre Seite.[56] Dieses in den Satzungen verankerte Recht ruft Koetschaus Widerwillen hervor, der darin Potential für Parteilichkeiten sieht.[57] Koetschaus Missfallen auf Grund einer Vermischung der Akteursrollen steht in krassem Kontrast zur Handhabe mit diesem Thema im Sonderbund, wo – wie bereits beschrieben – Sonderrollen und Organ-übergreifende Befugnisse üblich sind. Im Gründungsausschreiben des Sonderbundes findet sich dementsprechend keine Äußerung zu den Verantwortlichen der Bilderhängung. Doch erwähnt Macke in einem Brief an Marc, dass dies von der Jury übernommen werde. So seien Hagelstange und Reiche für die Hängung der französischen Kunst und Clarenbach und Deusser für die Hängung der Werke deutscher Künstler verantwortlich.[58] Marc zog aus den Zwistigkeiten über die Werkhängung im Sonderbund Konsequenzen, und erhielt 1912 im Rahmen der ‚Gegenausstellung‘ bei Walden umfassende Mitbestimmungsrechte.[59] Infolge der Problematik im Sonderbund wird vom Jungen Rheinland im Aufruf an die jungen rheinischen Künstler gleich zu Beginn festgehalten, dass die zur Verfügung stehenden Ausstellungsräume gleichmäßig unter den Künstlern aufzuteilen seien.

 

Die zu bildende Pressekommission des Jungen Rheinland hat vermutlich auch ihren Ursprung in den Erfahrungen mit dem Sonderbund. Im Aufruf wird als Betätigungsfeld der Pressekommission die Bearbeitung von Kunstzeitschriften und Zeitungen definiert. Es solle auf eine Zeitschrift wie die Rheinlande Einfluss genommen werden, damit man in der periodischen Kunstliteratur vertreten sei.[60] Der Sonderbund geht diesem als Beispiel voran, denn er vermarktete sich für seine Zeit fortschrittlich in Publikationen, durch Plakate, Anzeigen und Postkarten und ließ sogar Sonderbund-Zigaretten produzieren.[61] Ab 1921 kommt es beim Jungen Rheinland zur Publikation einer vereinseigenen Zeitschrift, Das Junge Rheinland,[62] womit es die Ansätze des Sonderbundes noch ausbaut.

 

Der institutionelle Kern: Die Mitglieder als Entscheidungsträger

Abschließend zur Organisation der Vereinigungen soll es um das Mitentscheidungsrecht der Mitglieder gehen. In den Satzungen des Jungen Rheinland wird gleich in §2 festgelegt, dass sich die Vereinigung aus Vorstand und Mitgliederversammlung zusammensetzt.[63] Im Gründungsaufruf wird bestimmt, dass die Mitgliederversammlung alle Organe wählt, welche ihr auch berichtspflichtig sind.[64] Eine durch das Gesetz gegebene Notwendigkeit der Mitgliederversammlung steht erst zu heutiger Zeit fest.[65] Früher hingegen wurde die Auffassung vertreten, das Gesetz gestatte eine satzungsmäßige Abschaffung der Mitgliederversammlung.[66] Sich dieser Auffassung bedienend, entsprach der 1909 gegründete Sonderbund Westdeutscher Kunstfreunde und Künstler der Forderung nach einer Mitgliederversammlung nicht: Zum Thema Leitung und Geschäftsführung wurde im Gründungsausschreiben festgestellt, dass Kunstförderung nur möglich sei, wenn sie „rückhaltlos auf Persönlichkeit“ gegründet sei. „Stimme und Urteil Vieler“, heißt es dort, könne „[…] nur verwirrend und hemmend wirken“. Es wird explizit festgehalten, dass der Vorstand auf die Wahl durch die Mitglieder verzichtet und geschäftliche Mitgliederversammlungen nicht stattfinden sollen.[67] Dementsprechend gab es für die Mitglieder des Sonderbundes keine Handhabe, Verbesserungen herbeizuführen oder ein Handeln im Interesse der Mehrheit zu erzwingen. Insbesondere Zwistigkeiten durch eingefleischte Hierarchien, die sich insbesondere in der beschriebenen Sonderrolle Deussers manifestierte, wären durch eine Bestätigung der Mitglieder im Rahmen von Wahlen vermieden worden. Diese Erkenntnis schlägt sich dafür im Jungen Rheinland nieder: Es unterwirft die zentralen Organe, Vorstand und Jury, im ein- bzw. zweijährigen Turnus, wiederkehrenden Wahlen.[68]

 

Die Merkmale des Jungen Rheinland als Antwort auf den Sonderbund

Es konnte gezeigt werden, dass Das Junge Rheinland die von ihm kritisierten Geschehnisse im Sonderbund auf dessen zugrundeliegende Vereinsregelungen zurückführt, und – aus diesen Erkenntnissen schöpfend – versucht, die Probleme bei der eigenen Vereinsgründung an der Wurzel zu packen. Man entscheidet sich bewusst zur Übernahme mancher, zur Absage gegenüber anderen und zur Etablierung neuer Vereinsmerkmale.

 

Als Modell fungiert der Sonderbund bezüglich seines Umgangs mit öffentlichkeitswirksamen Methoden. Ebenso lehnt sich Das Junge Rheinland mit seiner Programmatik an den Sonderbund an, wobei es sich jedoch von der Integration ausländischer Kunst distanziert. Darüber hinaus entwickelt Das Junge Rheinland auch Regelungen, die als „Gegenmaßnahmen“ zu den im Sonderbund erlebten Problemen zu beurteilen sind. Bezüglich der Teilnahmebedingungen geschieht dies durch die Proklamation großer Offenheit, was eine Gleichstellung der Mitglieder begünstigt. Als die Organisation betreffende Maßnahmen kommt es zur Machteinschränkung übernommener Posten aus dem Sonderbund sowie zur Etablierung neuer Organe, die im Sonderbund fehlten: Einbußen in der Macht erfahren insbesondere Vorstand und Jury durch ihre Begründung in Wahlen sowie Nicht-Künstler durch ihre Ausgrenzung aus Jury und Vorstand. Besonders wird die Macht der Juroren beschnitten, die durch ein komplexes Jurysystem doppeltem Rechtfertigungszwang unterworfen werden. Ihre Entscheidungsmacht bei der Werkauswahl wird im Jungen Rheinland zudem durch eine institutionalisierte „Ausstellung der Zurückgewiesenen“ unterlaufen. Als angesichts der Probleme des Sonderbundes neu hinzukommende Organe wurden die Hängekommission und die Mitgliederversammlung identifiziert. Die Hängekommission dient als Mittel der Gerechtigkeit bei der empfindlichen Frage nach der jeweiligen Präsentation der Werke. Zuletzt stellt die festgelegte Mitgliederversammlung sicher, dass zukünftige Machtfragen in die Hände der Mitglieder gelegt sind.

 

Identitätsstiftender Bezugspunkt ist der Sonderbund für Das Junge Rheinland insofern, als dass er, obwohl im Kreuzfeuer der Kritik, für die Konstitution des Jungen Rheinland als Ausgangsbasis dient. Das Junge Rheinland orientiert sich am Sonderbund, indem es versucht, dessen Defizite zielführend zu konterkarieren. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Merkmale Gleichheit und Gerechtigkeit, welche im Sonderbund vermisst wurden. Es stellt sich abschließend die Frage, ob die Fokussierung auf Probleme zu Sonderbund-Zeiten die Vertreterinnen und Vertreter des Jungen Rheinland blind machte für andere mögliche Gefahren. Mögen Gleichheit und Gerechtigkeit in der Vereinigung gewahrt worden sein, so blieb Das Junge Rheinland nicht von der größten Gefahr eines Zusammenschlusses verschont – dem Auseinanderbrechen desselben. Gerade eines der Merkmale des Jungen Rheinland, das eine Verbesserung zum Sonderbund herbeiführen sollte, könnte dies begünstigt haben. Das Junge Rheinland bekennt bereits im Katalogvorwort seiner ersten Ausstellung selbst, dass „eine allzu große Weitherzigkeit der Aufnahmebedingungen gewisse Gefahren in sich birgt […]“.[69] Die erreichte Heterogenität und Richtungslosigkeit des Jungen Rheinland führen bereits 1919 zu einem Differenzierungsprozess, der ab 1923 in verschiedene Abspaltungen mündet.[70]