Initiativen

Förderschwerpunkt Lost Cities

Wahrnehmung von und Leben mit verlassenen Städten in den Kulturen der Welt

Der enorme Verstädterungsprozess, der aktuell eine besondere Dynamik entwickelt, hat eine paradox anmutende Kehrseite: die schrumpfenden und gänzlich verlassenen Städte, die sogenannten Lost Cities. Transformationsprozesse in verschiedenen Teilen der Welt lassen derzeit zahlreiche solcher „Lost Cities“ entstehen. Das Phänomen ist jedoch nicht neu, sondern seit Entstehung der Stadtkultur im 4. Jahrtausend vor Christus ein verbreitetes Kennzeichen urbaner Lebensform. In der Kulturgeschichte wurden Lost Cities stets auf sehr unterschiedliche Art wahrgenommen, reflektiert und gedeutet.

Ausgehend von diesem Befund und mit dem Ziel, aktuelle Problemlagen in größere historische Zusammenhänge zu stellen, hat die Gerda Henkel Stiftung im Jahr 2019 einen Förderschwerpunkt zum Thema „Lost Cities. Wahrnehmung von und Leben mit verlassenen Städten in den Kulturen der Welt“ eingerichtet. Der Förderschwerpunkt ist interdisziplinär angelegt und soll Projekte ermöglichen, in denen vielfältige Dimensionen der Auseinandersetzung mit verlassenen Städten im Mittelpunkt stehen. Dabei sollen kulturspezifisch wie kulturübergreifend kausale Zusammenhänge und regionale wie zeitliche Spezifika im Fokus stehen. Von besonderem Interesse sind die verlassenen Städte selbst und die unterschiedlichen Formen ihrer Deutung, Instrumentalisierung und Codierung in verschiedenen Kulturen und Zeiträumen.

Das Kuratorium der Gerda Henkel Stiftung bewilligte bislang rund 3,5 Millionen Euro für insgesamt 14 Forschungsprojekte, die ein breites Themenspektrum abdecken.

Um belebte und unbelebte Plätze geht es beispielsweise in einem Forschungsprojekt auf der arabischen Halbinsel: Im Oman hat sich der Aufschwung der letzten drei Jahrzehnte infolge von Erdöl- und Erdgasförderung auch auf die Wohnbebauung ausgewirkt. Die Bevölkerung zog vielfach aus den traditionellen Lehmziegelsiedlungen in angrenzende neue Häuser aus Beton, ohne die ursprünglichen Siedlungen ganz aufzugeben. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie nationale Institutionen warnen vor dem Verfall dieses einzigartigen kulturellen Erbes. Eine interdisziplinäre Forschergruppe mit Sitz in Frankfurt am Main, Bochum und Leipzig unter Leitung von Dr. Stephanie Döpper versucht, die soziale Relevanz von Omans verlassenen Stadtzentren verstehbar zu machen. Untersucht werden die materielle Kultur, die Akteure und Praktiken sowie die Deutungen und Codierungen der verlassenen Lehmziegelsiedlungen. Das Projekt wird auch in einer Videoreihe bei L.I.S.A.Video vorgestellt.

Die Kultur macht den Unterschied. Ob eine Stadt zur Lost City wird oder nicht, hängt auch und wesentlich davon ab, in welchem Maße dort Kulturinitiativen stattfinden. Ein Status als „kreative“ oder „smarte“ Stadt erzeugt Sichtbarkeit und lässt sich kommerzialisieren. Diese Beobachtung bildet den Ausgangspunkt für ein gemeinsames Forschungsprojekt unter Leitung von Prof. Dr. Caitlin Frances Bruce, das an den Universitäten Pittsburgh (USA) und Valencia (Spanien) angesiedelt ist. Wie kulturelle Praktiken dabei helfen, das Schicksal einer Stadt zum Besseren zu wenden, soll der Blick auf Städte zeigen, die sich in mancherlei Hinsicht im Übergang befinden, aber noch nicht „verloren“ sind. 19 Städte, von Barcelona und Bogotá bis Tokio und Toronto, werden in ihrer Entwicklung von öffentlicher Kunst und kreativer Infrastruktur analysiert.

Die Aufgabe von Orten erfolgt aus sehr vielfältigen Gründen. In der sächsischen Kleinstadt Johanngeorgenstadt sorgte beispielsweise der Uranabbau für eine erhebliche Veränderung des Stadtbildes. Mit dem Abriss der Altstadt verlor die Stadt ihr historisches Zentrum und trat in eine lange Zeit des Niedergangs ein. Auf Seite 18 folgt eine ausführliche Vorstellung des im Berichtsjahr bewilligten Forschungsprojekts unter der Leitung von PD Dr. Manuel Schramm (Chemnitz) und Prof. Dr. Simon Runkel (Jena).