Projekt
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Modernisierung am Küchentisch

Modernisierung am Küchentisch

Die kulinarische Erfindung der österreichischen Identität im langen 19. Jahrhundert

Stipendiatin

Amy Millet, Lawrence (Kansas, USA)

Förderung

Die Gerda Henkel Stiftung unterstützt das Vorhaben durch die Gewährung eines Promotionsstipendiums sowie die Übernahme von Reise und Sachkosten.

Cover der Ausgabe aus dem Jahr 1910 von Marie von Rokitanskys Kochbuch „Die Österreichische Küche“ (Erste Auflage 1897)

1897 veröffentlichte Marie von Rokitansky mit „Die Österreichische Küche“ eine Sammlung mehrerer hundert Rezepte, die sie alle selbst in ihrer Innsbrucker Küche ausprobiert hatte. Die Rezensenten waren begeistert, denn der Band enthielt in ihren Augen die besten Gerichte, die das Land der Habsburger zu bieten hatten: neben den erwartbaren Schnitzeln und Strudeln auch ungewöhnliche Suppenrezepte aus Katar sowie indisches Curry. Diese Gerichte in ein Buch zur österreichischen Küche aufzunehmen, zeugt von einem Österreichbild, das nicht an enge nationalistische Definitionen oder die imperialen Grenzen des Reiches gebunden war – vielmehr war es mit einem globalen Netzwerk der Ideen und Geschmäcker verwoben.

Hier setzt die Dissertation der Historikerin Amy Millet an. In ihrem Projekt zeigt sie die internationale Modernisierungsgeschichte Österreichs im langen 19. Jahrhundert sprichwörtlich am Küchentisch und wirft die Frage auf, wie die Küche nationale Identität stiftete und repräsentierte. Bislang standen bei Studien der österreichischen Identität die nationalistischen Ideologien der Zeit oder die kulturellen und politischen Institutionen im Zentrum, mittels derer die Habsburgermonarchie die Loyalität ihrer Untertanen zu sichern suchte – oder anders: die Interaktion zwischen Individuum und Staat. Amy Millet aber beginnt ihre Analyse nicht mit Vereinen, Ideologien oder Schulen, sondern mit dem Alltag der Menschen in Wien und Graz und fragt danach, welchen Beitrag kulinarische Praktiken wie Kochen, Einkaufen und Essengehen im habsburgischen Österreich dazu leisteten, Vorstellungen einer österreichischen Identität im 19. Jahrhundert zu entwickeln. Inwieweit verstärkte oder unterminierte das Konsumverhalten nationalistische Gefühle? Wurden durch den Konsum andere Identifikationsmerkmale ausgedrückt, die schwerer wogen als nationale Zugehörigkeit, wie Klassenbewusstsein, imperiale beziehungsweise kosmopolitische Ambitionen oder Geschlechtersolidarität?

Dabei konzentriert sich die Historikerin auf die Zeit zwischen dem frühen 19. Jahrhundert und dem Ersten Weltkrieg, als die kriegsbedingten Mängel sowohl die Kochpraktiken als auch den öffentlichen Diskurs über Nahrung grundlegend veränderten. Die Dekaden vor Kriegsausbruch hingegen waren geprägt von Fortschritten im Transportwesen und bei der Nahrungsherstellung, durch die eine Vielzahl von Lebensmitteln erstmals verfügbar wurde – darunter auch eine überraschende Menge sogenannter „Kolonialwaren“. Denn obwohl das Habsburgerreich selbst keine Überseekolonien verwaltete, verfügte es mit Triest über einen der größten europäischen Importhäfen der Zeit.

„Die internationale Modernisierungsgeschichte Österreichs im langen 19. Jahrhundert am Küchentisch“

Ausgehend von Kochbüchern, Unternehmensinventaren, Zeitungen und Magazinen, aber auch von staatlichen Dokumenten wie Import- und Zolllisten rekonstruiert Amy Millet die alltäglichen Transaktionen, die dem österreichischen Konsumverhalten zu Grunde lagen. Sie zeigt so, wie sich die Österreicher und Österreicherinnen durch ihr Essverhalten in die Welt einordneten – vom Marktbesuch, der es Frauen ermöglichte, in der sonst männerdominierten öffentlichen Sphäre zu agieren und sich vorpolitisch zu organisieren, bis hin zu den repräsentativen internationalen Küchenfestivals, die den Glanz des Habsburgerreichs fördern sollten.

Die so entstehende Monographie wird einen Beitrag zum Verständnis der Identitätsbildung in einer Zeit der rasanten Urbanisierung und Industrialisierung in Mitteleuropa leisten.