Der Traum vom Schlaf im 20. Jahrhundert

Wissen, Optimierungsphantasien und Widerständigkeit

Stipendiatin

Prof. Dr. Hannah Ahlheim, Gießen

Förderung

Die Gerda Henkel Stiftung unterstützte das Projekt durch die Gewährung eines Forschungsstipendiums sowie die Übernahme von Reise- und Sachkosten und hat für die Veröffentlichung der Habilitationsschrift einen Druckkostenzuschuss zur Verfügung gestellt.

„Plenty of sleep keeps him on the job“, U.S. Public Health Service, Washington, D.C., 1942

Schlafen ist keineswegs eine so natürliche Tätigkeit, wie gewöhnlich angenommen wird, sondern unterliegt vielfältigen kulturellen und gesellschaftlichen Prägungen. Soziale Verhältnisse nehmen ebenso Einfluss auf den Schlaf wie ökonomische Interessen und politische Rahmenbedingungen. Arbeit setzt ihm zeitliche Grenzen, Krieg stört seine Ruhe.

Auch wenn Menschen überall auf der Welt schlafen und zu allen Zeiten geschlafen haben, so unterscheidet sich doch die Art und Weise, wie das Schlafen beschrieben, bewertet, organisiert, „genutzt“ und praktiziert wurde. Prof. Dr. Hannah Ahlheim hat sich in ihrer Habilitationsschrift mit der Geschichte des Schlafs und des Wissens über den Schlaf im 20. Jahrhundert in Deutschland und den USA beschäftigt und dabei die Entwicklung der Wissenschaft und der modernen Gesellschaft miteinander verbunden. Auf der Grundlage von Fachpublikationen der zeitgenössischen Schlafforschung, Beschreibungen und Korrespondenz von Wissenschaftlern und Experten, aber auch am Beispiel der populären Ratgeberliteratur, von Kinderliedern, Feldpostbriefen und Kunstwerken hat sie sowohl nationale Besonderheiten als auch die wechselseitige Beeinflussung durch den transatlantischen Wissenstransfer herausgearbeitet.

Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert war der Schlaf Gegenstand zahlreicher Optimierungsphantasien. Hintergrund waren zunächst die gesellschaftlichen Umbrüche im Zuge der Industrialisierung: Durch die Verbreitung künstlichen Lichts wurde die starre Grenze zwischen Tag und Nacht aufgehoben, während die neuen Fabriken im Schichtbetrieb rund um die Uhr produzierten. Da die Wohnverhältnisse in den großen Mietskasernen beengt waren, richteten einige Fabrikanten spezielle Schlafhäuser ein, damit ihre Arbeiter möglichst ausgeruht zur Schicht erschienen und entsprechend leistungsfähig waren. Auch das Interesse der Wissenschaft erwachte in dieser Zeit, wenngleich der Fokus zunächst vor allem auf den sogenannten „Kopfarbeitern“ lag. Wurden im Zuge der modernen Schlafforschung die Schläfer zunächst als Angehörige einer „Klasse“, als bürgerlich oder proletarisch wahrgenommen, richtete sich der Blick nach dem Ersten Weltkrieg auf den Schlaf der Bevölkerung insgesamt. Eine „massenhafte“ Schlaflosigkeit schien um sich zu greifen, und in Filmen und Ratgebern gingen bedrohliche und faszinierende Figuren von Somnambulen, Schlaftrunkenen und Träumenden um. Im Zweiten Weltkrieg war die deutsche Wehrmacht an Soldaten interessiert, die mit möglichst wenig Schlaf auskamen, und testete chemische „Wachmittel“ an KZ-Häftlingen. In den USA waren in den 1950er Jahren Militär und Raumfahrt treibende Kräfte bei der Etablierung der Schlafforschung bzw. Schlafmedizin, bevor allmählich auch der – optimierbare – Schlaf des Individuums in den Interessensbereich der Wissenschaft rückte.

Das Schlafen, so ein Ergebnis von Prof. Ahlheims Studie, war aber stets auch Thema von anderen Formen des Wissens, etwa in Kunst oder Literatur, alternativer Medizin oder Lebenskultur. Dieses „Gegenwissen“ und die Stellen, an denen sich Schlaf der Ordnung widersetzte oder als Sehnsuchtsort fungierte, stellt sie in ihrer Arbeit am Beispiel des Kinderschlafs, von Feldpostbriefen aus dem Zweiten Weltkrieg oder von Kunstwerken den Optimierungsphantasien entgegen. Die Habilitationsschrift ist im Berichtsjahr im Wallstein Verlag, Göttingen, erschienen:

Hannah Ahlheim, Der Traum vom Schlaf im 20. Jahrhundert. Wissen, Optimierungsphantasien und Widerständigkeit, Göttingen 2018

L.I.S.A. WISSENSCHAFTSPORTAL GERDA HENKEL STIFTUNG hat eine Filmreihe über das Forschungsprojekt produziert.