1162.2. Vorbilder - Abbilder - Europabilder

Die Europafilme der Thaws ähneln sich inhaltlich wie ästhetisch unverkennbar, indem sie den Fokus neben Sehenswürdigkeiten und Landschaften auf den Konsum von luxuriösen Gütern und Dienstleistungen wie Mode, Alkohol und feines Essen, Grandhotels oder besonders komfortable Fortbewegungsmittel legten. Damit konstruierten sie Europa weniger als geografischen Raum, sondern vielmehr über ein bestimmtes Set von Konsumpraktiken. Das Europabild der Filme kommt allerdings nicht nur durch deren Inhalt zustande, sondern basiert auch wesentlich auf ihrer narrativen Dynamik und ästhetischen Gestaltung.[1] Während es bei einem Spielfilm aufgrund der komplexen Produktionsverhältnisse und der vielen Beteiligten geradezu unmöglich ist, von der individuellen Intention des Regisseurs, des Produzenten, des Schauspielers, des 117Kameramanns, des Beleuchters etc. zu sprechen, ist die Situation bei den Amateurfilmen der Thaws einfacher. Hier bestimmten nur zwei Personen, wie die Filme das Paar in Europa präsentierten. Umso wichtiger ist es, neben der Handlung auch die Machart der Filme ernst zu nehmen. In einem zweiten Schritt lässt sich anhand des breiteren medialen Ensembles aus Fotoalben, professionellen Travelogues und Reiseführern zeigen, wie Larry und Peggy bestehende Vorbilder aufgriffen oder ignorierten und wie stark dabei die Beschaffenheit des jeweiligen Mediums seinen Inhalt prägte.

Der erste Film der Thaws, »A Motor Honeymoon« von 1924, befindet sich auf sechs 16-Millimeter Rollen und dauert 90 Minuten. Im Vergleich zu seinen Nachfolgern ist er mit zahlreichen Text- und Bildtafeln sowie einem Vor- und Abspann am aufwendigsten gestaltet. Im Zentrum der Handlung steht die Hochzeitsreise durch Europa, die sich inhaltlich in drei Teile gliedert: Eingerahmt von den Atlantiküberquerungen stellt die Fahrt über den Kontinent den Hauptteil dar. Der Film thematisiert dabei die einzelnen Etappen ebenso wie die Autofahrten. Am Anfang gibt das Paar einen Einblick in sein Leben in New York kurz vor der Abreise, gefolgt von der Schifffahrt auf der Aquitania. Nach einem kurzen Aufenthalt in Südengland fahren die Thaws und ihr Chauffeur nach Paris, Reims, Verdun und Metz. Über Straßburg und Colmar gelangen sie daraufhin in die Schweiz nach Basel, Bern, Luzern, Thun, Interlaken, Genf, Lausanne und Brig. Hier dominieren Städteansichten, Grandhotels und Berglandschaften. Über den Simplonpass setzen Larry und Peggy die Tour nach Italien fort und fahren durch das oberitalienische Seengebiet nach Venedig – den Ort, den Larry und Peggy am ausführlichsten filmen. Von hier führt die Reiseroute zur französischen Riviera nach Monte Carlo, Nizza und durch das Landesinnere über Nîmes bis Biarritz. Nach einem Tagesausflug ins spanische San Sebastián fahren Larry und Peggy über das Loiretal zurück nach Paris. Der letzte Reiseabschnitt konzentriert sich schließlich auf Südengland – Warwick, Stratford-upon-Avon, Worcester, Gloucester, Bath, Glastonbury, Clovelly, Exeter und Dorchester –, bis es in Southampton zurück auf den Transatlantikdampfer Berengaria der Cunard Line geht. Das Ende des Films kennzeichnet eine Aufnahme von Ellis Island. Der Zusammenschnitt von »A Motor Honeymoon« gibt einen guten Einblick in die Narration und die szenischen Wechsel zwischen Sehenswürdigkeiten und High Society-Orten (Szene 7).

Szene 7 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Der zweite Film »The Second Honeymoon – or – The Flight of the Parents – or – The Escape from Greenwich – or – What have you?« von 1927 ist mit 48 Minuten Laufzeit und drei Rollen deutlich kürzer als sein Vorgänger. Auch er zeigt ein ambitioniertes Programm, in dem Deutschland und Österreich nun eine größere Rolle spielen; der folgende Zusammenschnitt des Films spiegelt diese geografische Verschiebung wider. Am Anfang steht erneut die Überfahrt nach Europa zusammen mit New Yorker Freund/inn/en. Mit Station in Reims geht es dieses Mal über Luxemburg nach Deutschland (Bingen am Rhein, Berlin, Dresden) und mit 118einem Abstecher über Prag nach Wien, Salzburg und schließlich über die Dolomiten nach Italien. Ab hier knüpfen Larry und Peggy mit der Reiseroute wie auch visuell an 1924 an: Bei einem ausführlich dokumentierten Venedig-Aufenthalt entspannen sie am Lido und treffen Peggys Freundin Helen Bronson. Über das oberitalienische Seengebiet – mit dem obligatorischen Aufenthalt im Grandhotel Villa d’Este in Como – fahren die Thaws nun in die Schweiz (Luzern und Zürich) und zurück nach Deutschland, wo sie in Baden-Baden eine Kur machen; über diese Etappe informiert allerdings nur eine Texttafel. Darauf folgt eine Fahrt über die Vogesen nach Nancy und Paris (wieder mit Besuch im Ritz), um schließlich nochmals in Deauville das Strandleben zu genießen. Die Rückfahrt auf der Île de France bildet erneut den Endpunkt der Handlung. In den ersten beiden Europafilmen ist Peggy eindeutig der Star. Neben Sehenswürdigkeiten und Landschaften ist sie das Hauptthema der Aufnahmen – eine Rolle, die sie bereitwillig und aktiv übernimmt (Szene 8).

Senze 8 »The Second Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1927, 48 Min., Privatbesitz.

 

»A Journey Through Bavaria or Wagner, Religion and Beer« von 1930 (55 Minuten auf vier Spulen) konzentriert sich nun endgültig auf Bayern und Österreich. Ebenfalls eingerahmt durch die Transatlantiküberquerungen – diesmal unter anderem mit den Ehrets und der Opernsängerin Frieda Hempel –, zeigt der Hauptteil des Films den Start der Fahrt in Paris, wo die Thaws wie immer im Ritz absteigen. Von Frankreich geht es direkt nach Deutschland über Nürnberg, Bayreuth inklusive Festspielbesuch mit dem Ehepaar Stehli, Rothenburg, München, Oberammergau und zum Chiemsee. Danach fahren die Thaws von Salzburg nach St. Moritz und Luzern. Der Weg zurück nach Frankreich wird nicht thematisiert, und der Film endet wie gewohnt mit der Schiffsreise nach New York (Szene 9).

Szene 9 »A Journey through Bavaria«, Margaret und Lawrence Thaw, 1930, 55 Min., Imperial War Museum London.

 

Der letzte Europafilm »The Whole Damn Family in Europe« von 1932 (62 Minuten auf vier Rollen) stellt eine Besonderheit dar, weil Larry und Peggy hier mit ihren Söhnen, den Großeltern und ihren beiden Hunden unterwegs waren. Die Überfahrt auf der S. S. Paris bot Gelegenheiten, die ganze Familie beim Spiel mit Kindern und Hunden zu filmen. Nach der Landung in Plymouth fährt die Gruppe mit dem Auto nach Paris und macht sich dann auf den Weg an die Côte d’Azur. Lawrence jr., David und die Hunde bleiben mit einem Kindermädchen in Biarritz, während die Handlung Larry, Peggy und den Großeltern nach Nîmes, Avignon, Cannes, Nizza, Cap d’Ail (hier besuchen sie die Prochets in deren Villa) und Monte Carlo folgt. Über Genua, Mailand, Como (wieder mit Aufenthalt in der Villa d’Este) geht es weiter nach Venedig an den Lido. Im Anschluss daran fahren alle nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz; der Film zeigt wieder Oberammergau, München, Salzburg und St. Moritz in sehr ähnlichen Einstellungen wie bereits zwei Jahre zuvor. Vom Genfer See aus macht sich die ganze Gruppe auf den Rückweg nach Biarritz, wo nun auch die Großeltern bleiben, während Larry und Peggy zum Jagen nach Schottland fahren und die Stehlis treffen. Den mehrwöchigen Aufenthalt in Baden-Baden, den Peggy in ihrem Tagebuch ausführlich beschreibt, 119verschweigt der Film dagegen vollkommen. Die Heimreise nach New York auf der Bremen findet u. a. in Gesellschaft von Jules Bache und seiner Tochter statt (Szene 10).

Szene 10 »The Whole Damn Family in Europe«, Margaret und Lawrence Thaw, 1933, 62 Min., Imperial War Museum.

 

Die Europafilme aus den 1930er Jahren unterscheiden sich vor allem mit Blick auf Peggys Verhalten vor der Kamera von den ersten beiden. Insgesamt scheint Larry Peggy nun seltener gefilmt zu haben, die die Aufnahmesituation meist ignoriert. Auf diese Weise überwiegen in den späteren Filmen Szenen von Städten und Landschaften deutlich gegenüber den beiden Filmen aus den 1920er Jahren.

 

Wie die Zusammenfassungen der Filme zeigen, mussten die Thaws in ihren Stummfilmen visuelle und sprachliche Formen des Erzählens verbinden. Die größte filmische Einheit ist die Szene, die aus mehreren Einstellungen bestehen kann. Die Einstellung setzt sich wiederum aus einzelnen Bildern zusammen und ist jeweils durch zwei Schnitte gekennzeichnet. Das filmische Erzählen beruht damit auf der Auswahl der Einstellungen und Perspektiven durch die Kamera sowie auf der späteren Montage des Materials.[2] Eine sprachliche Ebene führten Larry und Peggy mit den Texttafeln ein, welche die einzelnen Szenen verbanden und kommentierten. Auf diese Weise wirkten zwei narrative Instanzen zusammen, die unterschiedlichen zeitlichen Entstehungskontexten entstammten. Die visuelle Erzählung gestaltete überwiegend Larry als Kameramann. Dabei nahm er nie die Perspektive einer anderen Person ein.[3] Die sogenannte Nullokularisierung, die im Spielfilm einen neutralen Blick von außen auf das Geschehen bietet, ist damit in den Amateurfilmen der Thaws gerade kein »nobody’s shot«.[4]

Abb. 14 Bildtafel aus dem Vorspann von »A Motor Honeymoon«, 1924, Privatbesitz.

 

Das bringt auch eine Tafel aus dem Vorspann von »A Motor Honeymoon« eindrücklich auf den Punkt: Sie stellt nicht nur Peggy entsprechend ihrer gesellschaftlichen Rolle in der High Society als Hauptdarstellerin und Larry als Kameramann (mit dem Chauffeur Kite als Assistenten) vor. Auch eine Zeichnung hält diese Konstellation fest, indem sie einen Mann mit Kamera zeigt, der eine Frau im Artistenkostüm auf einer Bühne filmt (Abb. 14). Das Bild impliziert, dass Peggy für die Unterhaltung zuständig war, Larry als Mann (und Kite) dagegen die Technik beherrschte(n). Bereits im ersten Film der Thaws wird deutlich, dass der Blick der Kamera mit geschlechtsspezifischen Vorstellungen aufgeladen war und voyeuristisch sein konnte, scheint der Kameramann doch der abgewandten Tänzerin geradezu unter den Rock zu filmen. 

 

In den Texttafeln kamen dagegen unterschiedliche Erzähler zu Wort.[5] Eine Wir-Perspektive – »While we had lunch« – wechselte sich ab mit einem sogenannten neutralen Erzähler – »The daily dozen for Larry: Trying to get Peggy up at the crack of dawn, i. e. 10 a. m.«.[6] Letzterer kam vor allem zum Einsatz, wenn es darum ging, Peggys Verhalten zu bewerten oder zu veralbern, und erwies sich in dieser Hinsicht 120tatsächlich als wenig neutral. Dabei deuteten nicht nur die Texte die Bilder, zugleich »partizipier[t]en sie […] an dem hohen Grad an Glaubwürdigkeit, den die Rezipienten Bildern gemeinhin zugestehen.«[7] Die Kombination dieser beiden narrativen Instanzen kreiert eine lineare Erzählung, die der Chronologie der Reisen folgt, ohne Höhepunkte zu setzen, und auf diese Weise dokumentarisch wirkt. Den faktualen Charakter des Films unterstützen darüber hinaus die Texttafeln, die den Vorgang des Filmens thematisieren und so die eigenen Herstellungsbedingungen offenlegen. In den ersten beiden Europafilmen finden sich zudem Erläuterungen, dass Aufnahmen aufgrund des Wetters oder der Lichtverhältnisse nicht möglich waren: »Four days of steady rain precluded any movies all the way from Zurich, through the Black Forest to Baden Baden in Germany«.[8] Diese Texttafeln illustrieren aber auch, dass die Tätigkeit des Filmens in den 1920er Jahren so außergewöhnlich war, dass das Filmmaterial nicht für sich alleine stehen konnte, sondern es lohnenswert war, auf den Vorgang und die Technik hinzuweisen. In den 1930er Jahren dagegen scheint der Amateurfilm in der amerikanischen Gesellschaft soweit angekommen zu sein, dass er sich normalisiert hatte und sich auch in den Filmen der Thaws entsprechende Kommentare erübrigten.

121Wie die kurzen Zusammenschnitte demonstrieren, geben in den Europafilmen in erster Linie die Atlantiküberquerungen den Rhythmus der Handlung vor. Das wirkt sich in besonderer Weise auf das Europabild aus, das die Thaws in ihren Filmen konstruierten. Indem die Schifffahrten Übergangsphasen markieren, rahmen sie den Europaaufenthalt und bringen ihn als zeitliche und räumliche Einheit hervor. Hier bleibt auch die Abfolge der Szenen einheitlich, während der zeitliche Abstand zwischen ihnen stets recht kurz ist.[9] Allein in »A Motor Honeymoon« strukturiert auch die Überquerung von Landesgrenzen innerhalb des Kontinents die Erzählung. Hier sind jedem neuen Land ein gezeichnetes Symbol und eine abgefilmte Landkarte zugeordnet.[10] Für England wählten die Thaws den Westminster Palace und die Westminster Bridge, für Frankreich den Eiffelturm, für die Schweiz eine Alpensilhouette mit dem Schweizer Wappen im Vordergrund, für Italien die italienische Fahne und für Spanien einen kleinen Mann mit Sombrero und Stier. Demgegenüber markierte die gefilmte und gemalte Freiheitsstatue den Anfangs- und Endpunkt des Films (Abb. 15).

 

Abb. 15 Bildtafeln aus »A Motor Honeymoon«, 1924, Privatbesitz.

 

Dennoch spielten die Landesgrenzen für die Handlung und somit für das Europabild der Thaws nur eine untergeordnete Rolle. Neben den abstrakten Symbolen weisen die Filme kaum auf nationale Eigenheiten hin. Die Symbole und Landkarten im ersten Film ziehen nicht einmal genaue geografische Grenzen. Nizza, Nîmes und Biarritz zählen noch zum Italienabschnitt der Reise, die Frankreichtafel erscheint erst, als die Fahrt von Biarritz nach Paris beginnt. In den drei folgenden Filmen ver122zichteten Larry und Peggy dann ganz auf eine nationale Unterteilung der Reisen. Nun reihten sich einfach Städte, Landschaften, Grandhotels und Sehenswürdigkeiten aneinander.

Dass Europa für die Thaws nicht aus einer Vielzahl von Einzelstaaten bestand, sondern einen homogenen Raum darstellte, ist zum einen bemerkenswert, weil sich hier Grenzüberquerungen in der Zwischenkriegszeit recht kompliziert gestalteten. Amerikaner/innen mussten im Vorfeld der Reise ihren Pass in den Konsulaten aller Länder vorzeigen, die sie zu besuchen gedachten. Für die meisten Staaten war zudem ein Visum erforderlich, das die amerikanischen Tourist/inn/en noch in den USA oder in den jeweiligen Konsulaten in Europa besorgen mussten.[11] An den Grenzstationen waren Kontrollen vorgesehen, und für die Einreise mit dem eigenen Auto wurde jeweils eine Kaution fällig, bis man das jeweilige Land wieder verließ.[12] Einmal vor Ort, sahen sich die Amerikaner/innen mit einer Vielzahl fremder Sprachen konfrontiert – eine Schwierigkeit, die der Reisebuchautor Edmund Stedman erkannte und pragmatisch anging. Er empfahl: »[U]se English just as if the people knew what it meant, and make signs. You will get on famously.«[13]

Neben diesen praktischen Erfahrungen zeichneten zum anderen zeitgenössische politische Diskussionen über europäische Migrant/inn/en ein fragmentiertes Bild der ›Alten Welt‹. Der National Origins Act von 1924 etwa wendete asymmetrische Länderquoten an und benachteiligte vor allem süd- und osteuropäische Staaten. Damit verknüpft waren die rassenbiologischen und ideologischen Diskurse, welche die Europäer/innen in höher- und minderwertige Rassen einteilten. In den 1920er Jahren zirkulierte dieses Wissen längst nicht mehr nur in Fachkreisen, sondern wurde in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert und fand seinen Weg auch in die Einführungen einiger Europareiseführer.[14] Frank Carpenter orientierte sich beispielsweise in seinem Buch von 1924 an Madison Grants ›Klassiker‹ The Passing of the Great Race und informierte seine Leser/innen über die angeblich überlegene »Teutonic family«, die »Mediterranean […] peoples« sowie die weniger zivilisierte »Alpine [branch]«.[15] Fotografien von Vertreter/inne/n der jeweiligen Gruppen veranschau­lichen die Ausführungen noch und machen die angeblichen physiognomischen Unterschiede sichtbar.[16]

123Zwar konzentrieren sich die Filme der Thaws auf Mittel- und Westeuropa, auf ihren Reisen drangen Larry und Peggy aber auch bis nach Spanien, Süditalien und Griechenland vor. Wenn es jedoch darum ging, visuelle Zeugnisse zu schaffen, interessierten sich Larry und Peggy schlicht nicht für die Bewohner/innen der europäischen Nationalstaaten. Viel häufiger als diese nahmen sie stattdessen bewusst ihre amerikanischen Freund/inn/e/n auf. Einerseits warfen die Thaws damit einen amerikazentrischen Blick auf Europa. Andererseits kannten sie aus ihrem engeren New Yorker Umfeld und der amerikanischen Gesellschaftsberichterstattung eine weiße, aber mit Blick auf die Nationalitäten recht heterogene Besetzung der High Society; das prägte auch ihr Europabild. In Anlehnung an Richard Dyers Überlegungen zu whiteness im Film bleibt in diesem Kontext zu betonen, dass Europäer/innen als Weiße für die Thaws ›normal‹ waren und deshalb auch für den Blick der Kamera unsichtbar blieben.[17]

Weitet man den Fokus nun auf das mediale Ensemble aus, in das die Filme der Thaws eingebettet waren, treten die Eigenheiten der jeweiligen Medien in den Vordergrund. Der Vergleich mit populären Travelogues von Burton Holmes und den Fotoalben der Thaws demonstriert, dass bewegte und fotografische Bilder unterschiedlichen Seh- und Erzählweisen verpflichtet waren und diese jeweils erlernt werden mussten. In diesem Zusammenhang ist es naheliegend, an die Überlegungen von Frank Bösch anzuknüpfen und Europa als »das Ergebnis einer spezifischen Kommunikation« zu beschreiben.[18] Bösch fordert dabei, die Beschaffenheit der Medien, die diese Kommunikation hervorbringen, ernst zu nehmen.[19] Indem der von ihm herausgegebene Sammelband aber ausschließlich sprachliche Repräsentationen untersucht und sich vor allem auf Presseerzeugnisse konzentriert, wird nur zum Teil sichtbar, wie fundamental ein Medium seinen Inhalt tatsächlich prägt. Hier wird außerdem eine Leerstelle der visuell ausgerichteten Tourismusgeschichte deutlich, die fragt, inwiefern das Reise- und Fotografierverhalten von Tourist/inn/en standardisiert oder durch die soziale Stellung und individuelle Biografie beeinflusst sei.[20] Die Frage sollte doch aber zumindest auch lauten: Inwiefern hängen Verhaltens- und Sehweisen vom jeweiligen Medium ab?

Insbesondere mit den Texttafeln und gezeichneten Bildern eiferte das Paar wohl dem Reisefilmer Burton Holmes (1870-1958) nach. Als travel lecturer startete Holmes Ende des 19. Jahrhunderts mit Vorträgen über seine Reisen in fremde Länder, 124bei denen er mithilfe einer Laterna Magica Fotografien zeigte. 1897 begann er zudem, Filmaufnahmen zu machen und sie zusätzlich in seine Vorführungen zu integrieren.[21] Dieses Vorgehen fand zahlreiche Nachahmer, weshalb in den 1910er Jahren Kurzfilme von europäischen Städten, ägyptischen Pyramiden und afrikanischen Urwäldern zum Standardprogramm dieser Präsentationen gehörten.[22] Mit der Ausdifferenzierung der Filmindustrie gingen die travel lecturers dann auch Kooperationen mit großen Filmstudios ein. Holmes arbeitete ab 1915 mit Paramount und später mit Metro-Goldwyn-Mayer zusammen, die seine Kurzfilme für das Vorprogramm von Spielfilmen und als Unterrichtsmaterial vertrieben. Eine Reihe von Filmen über Paris und London, die zu Beginn der 1920er Jahre herauskamen, dürften auch Larry und Peggy gekannt haben.[23]

 

Abb. 16 Obere Reihe: Bildtafeln aus Burton Holmes’ »Seeing Paris«, 1921, und »Seeing London«, 1918; untere Reihe: Bildtafeln aus »A Motor Honeymoon«, 1924, www.travelfilmarchive.com und Privatbesitz.

 

Mit Blick auf die Texttafeln werden die Parallelen zwischen Holmes’ Filmen (Abb. 16, obere Reihe) und »A Motor Honeymoon« (untere Reihe) besonders sicht125bar. Wie Holmes gestalteten Larry und Peggy einen Vorspann und nutzten neben Texten auch Bilder, um die einzelnen Szenen zu verbinden bzw. einzuleiten. Vor allem die beiden Versionen der Houses of Parliament gleichen sich auffallend, weshalb die Vermutung naheliegt, dass die Thaws Holmes hier bewusst nachahmten.

Darüber hinaus weist auch die Sprachwahl Ähnlichkeiten auf, wenn sich Holmes und die Thaws etwa über die schwierige Aussprache der Pariser Sehenswürdigkeiten amüsierten. Während der professionelle Reisefilmer scherzte: »L’Avenue de l’Opéra … Hard to pronounce but easy to admire …«, bezeichneten Larry und Peggy die Champs-Élysées als »The Chops de Lizzie«.[24]

Während Holmes mit Adjektiven aber insgesamt eher sparsam umging und in erster Linie einfach die Namen der Straßen, Plätze und Gebäude auf seinen Texttafeln angab, bewerteten und klassifizierten Larry und Peggy ausführlich das Gezeigte. Meist waren Gebäude »famous«, Rastplätze und Restaurants »charming« und Naturaufnahmen »picturesque«, »romantic« und »beautiful«. Was Mary Louise Pratt für die viktorianische Entdeckerrhetorik in Afrika festhält, trifft auch auf die Filme der Thaws zu: Mithilfe von Adjektiven fand eine Ästhetisierung der Aufnahmen statt, welche die Qualität und den Wert der Reisen konstituierte.[25] Darüber hinaus genossen Larry und Peggy die reizvollen Ansichten nicht nur vor Ort, sondern schufen selbst wiederum schöne Bilder.[26] Schließlich demonstrierten sie so zusätzlich zu ihren Sprachkenntnissen auch ihr Wissen über die Kulturschätze Europas und seine geografischen Besonderheiten. Die Statuen der Kathedrale von Reims etwa erkannten sie als »priceless«, Bern war eine der »most medieval cities in Europe« und »[a]t Tobiacco began that most beautiful of all mountain ranges – the Italian Dolomites«.

Die Texttafeln der Thaws scheinen damit eher einem Reiseführer entnommen zu sein als Holmes’ Filmen. Frank Carpenter beschreibt beispielsweise die Place de la Concorde ähnlich hochtrabend: »How beautiful it is! I dare say we shall not see anything finer anywhere else […]. We are surrounded by gardens and parks and beautiful buildings.«[27] Die gewählte Ausdrucksweise findet sich zudem bereits in Larrys frühen Zeitungsartikeln und vor allem in seinem Bericht von der Westfront. Indem sie zeigten, dass sie diese Sprachformen beherrschten, präsentierten sich die Thaws als kultiviert und gebildet. Zugleich nahmen sie nun aber auch den launigen und scherzhaften Tonfall der Gesellschaftsberichterstattung à la Cholly Knickerbocker auf. Im letzten Europafilm »The Whole Damn Family in Europe« von 1934 nehmen diese einordnenden Elemente jedoch deutlich ab. Hier verzichteten die Thaws fast vollkommen auf den Gebrauch von wertenden Adjektiven und benannten nur noch die Sehenswürdigkeiten. Ähnlich, wie es in den 1930er Jahren nicht mehr wichtig war, den Akt des Filmens im Film selbst zu thematisieren, scheint es auch zu 126keinem Distinktionsgewinn mehr geführt zu haben, das geballte Europawissen wieder und wieder vorzuführen.

Nichtsdestotrotz veränderten Larry und Peggy mit der Zeit aber auf den Text­tafeln die Optik ihrer Schrift und der Bildmotive entsprechend dem sich wandelnden Geschmack. Der verspielte Stil der 1920er Jahre mit den ornamentalen Rahmen wich in den 1930er Jahren klaren Linien. Auch hier dürften Holmes’ Filme wie zur »Century of Progress Exposition« (Abb.  17, untere Reihe, rechts) weiterhin als Vorbild gedient haben.

 

Abb. 17 Texttafeln aus »The Second Honeymoon«, »A Journey Through Bavaria« und »The Whole Damn Family in Europe«, Titel aus Burton Holmes’ »Century of Progress Exposition«; Privatbesitz, Imperial War Museum und www.travelfilmarchive.com.

 

Zusätzlich zu den modernen Travelogues blieben die Thaws in ihren Filmen jedoch auch älteren Erzähl- und Sehweisen verpflichtet. Vergleicht man die Europafilme mit den zeitgleich entstandenen Fotoalben, werden diese Parallelen besonders augenfällig. Bemerkenswerterweise drehte das Paar nämlich nicht nur Filme, sondern machte auf seinen Reisen auch viele Fotos.[28] Das scheint einerseits durchaus naheliegend, denn im Gegensatz zur aufwendigen Filmvorführung, für die Leinwand und Projektor aufgebaut, das Zimmer abgedunkelt und Möbel verrückt werden mussten, konnte man ein Fotoalbum bei Bedarf einfach vorzeigen. Andererseits bedeutete das für die Reisen selbst noch mehr Gepäck bzw. mussten vor Ort teilweise zwei Apparate herumgetragen und für dasselbe Motiv doppelt so viel Zeit aufgewendet werden. Die Bildunterschriften in allen Alben sind in Larrys Handschrift verfasst, sodass anzunehmen ist, dass er sich nicht nur überwiegend um die 127Gestaltung der Filme, sondern auch der Alben kümmerte. Am Beispiel von »A Motor Honeymoon« und des vollständig erhaltenden Fotoalbums lassen sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten am besten herausarbeiten.

Während sich Holmes’ Filme meist auf eine Stadt oder ein Stadtviertel konzentrieren – ein Zuschnitt, der dem kurzen Newsreel-Format geschuldet gewesen sein dürfte –, folgen Film und Fotoalbum der Thaws dem episodischen Erzählen des Reiseverlaufs. Die narrative Struktur von Film und Album ist dabei identisch: Einen eigens dafür geprägten Einband schmückt ein Auto und der Titel »A Motor Honeymoon«; eine einleitende Seite, eine Karte von Europa mit eingezeichneter Reiseroute und mit den Ländernamen beschriftete Seiten und Kartenausschnitte strukturieren die Erzählung. Das Ende markiert ein Foto der Freiheitsstatue (Abb. 18).

 

Abb. 18 Einband und Seiten des Fotoalbums »A Motor Honeymoon«, 1924, Privatnachlass Thaw.

 

Darüber hinaus verwendete Larry für die Bildunterschriften im Album oftmals dieselben oder sehr ähnliche Formulierungen wie für die Tafeln im Film. Die Fotografien selbst illustrieren jedoch am eindrücklichsten, wie stark Larrys Blick durch die Filmkamera noch von der Fotografie geprägt war.

Die Venedig-Szenen in »A Motor Honeymoon« zeigen, dass Larry nicht nur dieselben Motive filmte und fotografierte, sondern auch ähnliche Einstellungen und Perspektiven wählte, ohne dass sie allerdings vollkommen übereinstimmten.[29] Dabei wird deutlich, dass Larry ein besserer Fotograf als Kameramann war; Komposition und Ausschnitte der Fotografien sind wesentlich harmonischer und symmetrischer als die bewegten Versionen (Szene 11).

 

Szene 11 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

128Zwar versuchte Larry durchaus, im Film mithilfe von Schwenks dynamischere Bilder zu schaffen. Vergleicht man die Filme der Thaws aber mit denjenigen von Holmes, wird klar, dass Larry beim Filmen dennoch stark den Sehweisen der Fotografie verhaftet blieb. Bis in die 1930er Jahre setzten sich die Europafilme überwiegend aus vielen einzelnen Einstellungen zusammen. Eine Sehenswüdigkeit oder Landschaft entspricht im Film somit meist einer Einstellung, was – trotz der Kamerabewegungen – den Eindruck eines unbewegten und für sich stehenden Einzelbildes erzeugt und eher an die Abfolge von separaten Fotografien in einem Album erinnert (Abb. 19).

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Abb. 19 Venedig-Ansichten aus dem Fotoalbum »A Motor Honeymoon«, 1924, Privatnachlass Thaw.

 

128Symptomatisch dafür ist der Venedig-Abschnitt, in dem sich das Ensemble des Markusplatzes aus recht statischen Aufnahmen des Markusdoms, des Torre dell’Orologio und von Peggy zusammensetzt. In Holmes’ Paris-Travelogues kreieren dagegen aus unterschiedlichen Perspektiven gefilmte Plätze und Gebäude in der Gesamtheit der einzelnen Einstellungen eine dynamische und zusammenhängende Szene. In »Nine Glories of Paris« näherte sich Holmes beispielsweise dem Arc du Carrousel in sieben Einstellungen und integrierte dabei über spazierende Menschen, fahrende Autos oder die Fontäne eines Brunnens zusätzlich bewegte Elemente in die Bilder (Szene 12).

Szene 12 »Nine Glories of Paris«, R: Burton Holmes, USA 1921, 4 Min., www.travelfilmarchive.com.

 

Noch einen Schritt weiter ging er in »Seeing Paris. Part I: On the Boulevards«, indem er die Stadt von einem fahrenden Auto aus aufnahm (Szene 13).

Szene 13 »Seeing Paris. Part I: On the Boulevards«, R: Burton Holmes, USA 1921, 12 Min., www.travelfilmarchive.com.

 

Schließlich offenbaren die Venedig-Ansichten aus »A Motor Honeymoon« und dem Album, dass Larry Darstellungsweisen aufgriff und nachvollzog, die in den 1920er Jahren fester Bestandteil des touristischen und kulturellen Bilderkanons von Europa waren. Die Standbilder (Abb.  20, obere Reihe) und die Abbildungen aus dem zeitgenössischen Bildband Venice. Buildings and Sculptures (untere Reihe) gleichen sich auf bemerkenswerte Weise: Der Torre dell’Orologio wurde jeweils in einer leichten Untersicht und von einem ähnlichen Standpunkt aus schräg zum Gebäude aufgenommen. Die Seufzerbrücke präsentiert sich eingerahmt von Häuserreihen, während das Geländer der vorgelagerten Brücke als optische Begrenzung im Vordergrund dient. Die Rialtobrücke wurde dagegen von derselben Seite des Canal Grande aufgenommen, ebenfalls eingerahmt von Häuserzeilen und mit Booten im Vordergrund.

 

Abb. 20 Obere Reihe: Venedig-Ansichten. Standbilder aus dem Film »A Motor Honeymoon«, 1924, Privatbesitz. Untere Reihe: Venedigansichten, abgedr. in: S[amuel] Guyer, Venice. Buildings and Sculptures. With an Outline of its Art History and 104 Plates, Augsburg 1928, S. 2, 24, 48.

 

Gemeinsam mit professionellen Fotograf/inn/en und Reisefilmer/innen beteiligten sich die Thaws an einer Visualisierungspraxis, bei der die Grenzen zwischen Profi- und Amateurtum verschwammen. Dieser »wechselseitige Prozess[] der Entlehnung und (Wieder-)Aneignung«[30] kommerzieller und privater Bilder kennzeichnete auch die späteren Europafilme; den gängigen Venedig-Darstellungen etwa blieben Larry und Peggy auch weiterhin in »The Second Honeymoon« und »The Whole Damn 130Family in Europe« treu. 1927 machte Larry allerdings bereits einige bewegte Aufnahmen von fahrenden Booten aus (Szene 14).

Szene 14 »The Second Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1927, 48 Min., Privatbesitz.

 

So zeichnet sich in den Europafilmen der Thaws gerade kein geradliniger Professionalisierungsprozess ab. Indem sie ihren ersten Film am aufwendigsten gestalteten und sich am stärksten an den Travelogues von Burton Holmes orientierten, stellt ihr Erstlingswerk die ausgereifteste Version dar. Mit der zunehmenden Normalisierung des Amateurfilms lohnte es sich dagegen in den folgenden Jahren offenbar immer weniger, außergewöhnlich viel Geld und Mühe in die Gestaltung zu investieren. Zudem entwickelten sich Larrys filmerische Fähigkeiten nur langsam weiter, wie die wiederkehrenden Szenen belegen.

Neben den Ähnlichkeiten zwischen Film und Fotografie verweist die Venedig-Szene jedoch auch auf einen wesentlichen Unterschied im Gebrauch dieser beiden Medien: »A Motor Honeymoon« zeigt nicht nur die Sehenswürdigkeiten, sondern auch Peggy beim Taubenfüttern. Auf den Venedig-Fotos dagegen ist Peggy nie zu sehen. Tatsächlich finden sich in den Fotoalben zu den Europareisen kaum Bilder von Personen, sondern beinahe ausschließlich von Gebäuden, Denkmälern, Städten und Landschaften. Auf den 300 Bildern des Albums zur Hochzeitsreise ist Peggy nur auf neun zu sehen. Das ältere Medium der Fotografie und die Präsentationsform im Album blieb offensichtlich den euopäischen Kulturschätzen vorbehalten und eröffnete einen bildungsbeflissenen Blick auf die Hochzeitsreise. Diese Version des Honeymoon hatte nichts mit dem Spaßtourismus der Mittelklasse zu tun, sondern demonstrierte Distinguiertheit und Reichtum. Das neue Medium Film konnte sich 131von diesen etablierten Darstellungen zwar nicht lösen, diente aber vor allem dazu, Personen und Konsumakte festzuhalten. Auf diese Weise waren die Filme der Themensetzung der Gesellschaftsberichterstattung deutlich näher und zeichneten damit ein anderes Europabild als die Alben.

Zum einen lässt sich also festhalten, dass die Europafilme und -fotografien durchaus etablierten Sehweisen folgten und dabei unterschiedliche mediale Formate und Darstellungsformen eng verknüpft aufeinander einwirkten. Larry konnte dennoch nicht einfach einen standardisierten »touristischen Blick« auf die ›Alte Welt‹ imitieren. Fotografie und Film boten vielmehr zwei unterschiedliche Linsen auf Europa, wobei das neue dynamischere Sehen mit der Filmkamera erst erlernt werden musste. Zum anderen hing der Inhalt der Bilder wesentlich von der Beschaffenheit des jeweiligen Mediums und seinen Eigenlogiken ab. Ebenso wie der technische Umgang mit der Filmkamera erlernt werden musste, war auch das Verhalten vor der laufenden Kamera Anfang der 1920er Jahre keine Selbstverständlichkeit. Das folgende Kapitel beleuchtet deshalb die Interaktionsformen, die typisch für die frühen Amateurfilme waren.