1162.2. Vorbilder - Abbilder - Europabilder
Die Europafilme der Thaws ähneln sich inhaltlich wie ästhetisch unverkennbar, indem sie den Fokus neben Sehenswürdigkeiten und Landschaften auf den Konsum von luxuriösen Gütern und Dienstleistungen wie Mode, Alkohol und feines Essen, Grandhotels oder besonders komfortable Fortbewegungsmittel legten. Damit konstruierten sie Europa weniger als geografischen Raum, sondern vielmehr über ein bestimmtes Set von Konsumpraktiken. Das Europabild der Filme kommt allerdings nicht nur durch deren Inhalt zustande, sondern basiert auch wesentlich auf ihrer narrativen Dynamik und ästhetischen Gestaltung.[1] Während es bei einem Spielfilm aufgrund der komplexen Produktionsverhältnisse und der vielen Beteiligten geradezu unmöglich ist, von der individuellen Intention des Regisseurs, des Produzenten, des Schauspielers, des 117Kameramanns, des Beleuchters etc. zu sprechen, ist die Situation bei den Amateurfilmen der Thaws einfacher. Hier bestimmten nur zwei Personen, wie die Filme das Paar in Europa präsentierten. Umso wichtiger ist es, neben der Handlung auch die Machart der Filme ernst zu nehmen. In einem zweiten Schritt lässt sich anhand des breiteren medialen Ensembles aus Fotoalben, professionellen Travelogues und Reiseführern zeigen, wie Larry und Peggy bestehende Vorbilder aufgriffen oder ignorierten und wie stark dabei die Beschaffenheit des jeweiligen Mediums seinen Inhalt prägte.
Der erste Film der Thaws, »A Motor Honeymoon« von 1924, befindet sich auf sechs 16-Millimeter Rollen und dauert 90 Minuten. Im Vergleich zu seinen Nachfolgern ist er mit zahlreichen Text- und Bildtafeln sowie einem Vor- und Abspann am aufwendigsten gestaltet. Im Zentrum der Handlung steht die Hochzeitsreise durch Europa, die sich inhaltlich in drei Teile gliedert: Eingerahmt von den Atlantiküberquerungen stellt die Fahrt über den Kontinent den Hauptteil dar. Der Film thematisiert dabei die einzelnen Etappen ebenso wie die Autofahrten. Am Anfang gibt das Paar einen Einblick in sein Leben in New York kurz vor der Abreise, gefolgt von der Schifffahrt auf der Aquitania. Nach einem kurzen Aufenthalt in Südengland fahren die Thaws und ihr Chauffeur nach Paris, Reims, Verdun und Metz. Über Straßburg und Colmar gelangen sie daraufhin in die Schweiz nach Basel, Bern, Luzern, Thun, Interlaken, Genf, Lausanne und Brig. Hier dominieren Städteansichten, Grandhotels und Berglandschaften. Über den Simplonpass setzen Larry und Peggy die Tour nach Italien fort und fahren durch das oberitalienische Seengebiet nach Venedig – den Ort, den Larry und Peggy am ausführlichsten filmen. Von hier führt die Reiseroute zur französischen Riviera nach Monte Carlo, Nizza und durch das Landesinnere über Nîmes bis Biarritz. Nach einem Tagesausflug ins spanische San Sebastián fahren Larry und Peggy über das Loiretal zurück nach Paris. Der letzte Reiseabschnitt konzentriert sich schließlich auf Südengland – Warwick, Stratford-upon-Avon, Worcester, Gloucester, Bath, Glastonbury, Clovelly, Exeter und Dorchester –, bis es in Southampton zurück auf den Transatlantikdampfer Berengaria der Cunard Line geht. Das Ende des Films kennzeichnet eine Aufnahme von Ellis Island. Der Zusammenschnitt von »A Motor Honeymoon« gibt einen guten Einblick in die Narration und die szenischen Wechsel zwischen Sehenswürdigkeiten und High Society-Orten (Szene 7).