1072. Europa: Die ›Alte Welt‹ im neuen Medium

Szene 6 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Die erste Szene des ersten Films der Thaws, »A Motor Honeymoon« von 1924, ist beispielhaft für das Leben in der High Society ebenso wie für die Europareisen des Paares. Hier sieht man Peggy kurz vor der Abreise nach Europa im New Yorker Apartment des Park Lane Grandhotel am Frühstückstisch bei der Zeitungslektüre. Sie legt die Zeitung beiseite, um sich eine Tasse Kaffee einzuschenken – eine erstaunlich elaborierte Handlung, die drei unterschiedliche Kännchen und eine Zuckerdose involviert – und nimmt schließlich ihren Ehering ab, um ihn in die Kamera zu halten (Szene 6). Auf diese Weise bündelt die Szene zentrale Themen der High Society und macht sie konzentriert in 26 Sekunden sichtbar: Ganz dem Fokus der Society Pages entsprechend präsentierte sich Peggy als Star des Films in einem privaten Raum und nur mit einem Morgenmantel bekleidet. Die aufgeschlagene Zeitung in der Bildmitte gibt die Presse und die Gesellschaftsberichterstattung als Bezugsrahmen vor, während der morgendliche Kaffee, das schicke Hausjäckchen und der Ring auf die große Bedeutung von Konsumpraktiken verweisen. Darüber hinaus rückt der Ehering aber auch die Paarbeziehung der Thaws in den Blick. Diese Elemente kennzeichnen nicht nur die Europafilme, sie verknüpften darüber hinaus die Reisen des Paares mit seinem Leben in New York.

Larrys und Peggys Europafilme entstanden in einem Zeitraum von acht Jahren: 1924 drehten sie »A Motor Honeymoon« (90 Min.), 1927 »The Second Honeymoon – or – The Flight of the Parents – or – The Escape from Greenwich – or – What Have You?« (48 Min.), 1930 »A Journey Through Bavaria or Wagner, Religion and Beer« (55 Min.) und 1932 »The Whole Damn Family in Europe« (62 Min.). Damit eröffnen sie eine Perspektive auf die Zeit vom ersten gemeinsamen Amateurfilm bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich die Thaws 1934 dazu entschlossen, ihren noch selbstgedrehten Afrikafilm »From Cairo to Cape« kommerziell zu verwerten. Anhand der Europafilme kann also untersucht werden, inwiefern sich Filminhalte und Darstellungsweisen veränderten, wie sich das Reiseverhalten des Paares in Europa entwickelte und wie sich Larrys und Peggys Interaktion im Film wandelte. Im Gegensatz etwa zu den Palm Beach-Filmen zeichnen sich die Europafilme auch dadurch aus, dass hier zahlreiche unterschiedliche Akteure wie Peggys Eltern, die Kinder der Thaws, ihre Freund/inn/e/n und Haustiere auftreten. So lassen sich die für Amateurfilme typischen Handlungsmuster differenzierter analysieren. Zugleich müssen die Europafilme aber auch im größeren Kontext der angestrebten Professionalisierung betrachtet werden. Verbesserten sich die Thaws in den acht Jahren technisch, visuell und in ihrem Verhalten vor der Kamera oder lässt sich hier gerade keine geradlinige Entwicklung beobachten?

Da das Paar nicht jede Reise filmte, von 1924 bis 1933 jedoch beinahe jährlich nach Europa fuhr, ist es wichtig, zunächst die Grundzüge des amerikanischen Europatourismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beleuchten. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Filme dann anhand dreier thematischer Komplexe untersu108chen: Erstens gilt es, ihre Machart, ihre Narration und Ästhetik zu analysieren und mediale Vorbilder wie zeitgenössische Europabilder zu identifizieren. Die Amateurfilme der Thaws kennzeichnet, dass sie – im Gegensatz zu ihren Fotografien – auf Personen und deren Handlungen abzielten. Zweitens stehen deshalb die spezifischen interaktiven Dynamiken der Amateurfilme und ihre Verknüpfung mit den medialen Körperpraktiken der Gesellschaftsberichterstattung im Fokus. Drittens stellt sich die Frage, welche Rolle der thematische Schwerpunkt auf Konsum spielte und wie dieser wiederum das Europabild der Thaws prägte.