2663. Der Nahe Osten und Indien: Politisierung und Verwertung

Mit den Afrikafilmen waren die Thaws dem touristischen und filmischen Mainstream ihrer Zeit gefolgt. Das sollte sich jedoch mit ihrem nächsten Projekt ändern. Von Juni 1939 bis Mai 1940 fuhr das Paar mit dem Auto von Paris aus über den ­Balkan durch die Türkei, Syrien, den Irak, den Iran und Afghanistan bis nach Indien. Der zweite Teil der Fahrt führte sie daraufhin kreuz und quer über den Subkontinent bis ganz in seinen Süden nach Ceylon (heute Sri Lanka). Neben mehreren kurzen Lehr- und Newsreel-Filmen gingen 1940 zwei Feature-Filme aus der Reise hervor: »The Great Silk Route« (73 Min.) und »India« (82 Min.).[1]

Dieses Unternehmen war in dreifacher Hinsicht bemerkenswert: Zum einen dauerte es ein ganzes Jahr. Wer so lange die festen Daten des High Society-Kalenders in New York und Europa ignorierte, lief durchaus Gefahr, ins mediale und gesellschaftliche Abseits zu geraten. Die Thaws sahen in der neuen Reise und den geplanten Filmen aber offenbar im Gegenteil die große Chance, ihre mediale Sichtbarkeit zu vergrößern, ihren High Society-Status zu aktualisieren und ihre Professionalität als Personen des öffentlichen Interesses wie als Medienschaffende zu steigern. Dafür waren sie zweitens bereit, außergewöhnlich viel Geld einzusetzen und rund 150.000 Dollar (heute rund 2.650.000 Dollar) zu investieren.[2] Drittens waren Vorbereitung und Durchführung der Reise überaus kompliziert und das nicht nur, weil der Zweite Weltkrieg ausbrach, als sich das Paar gerade in Syrien aufhielt. Indien verfügte teilweise über eine touristische Infrastruktur, die aber insgesamt noch nicht besonders ausgeprägt war.[3] In den Ländern, die die Thaws auf ihrem Weg bis zum Chaiber-Pass 267durchquerten, entstanden die entsprechenden Strukturen erst seit den 1930er Jahren.[4] Mehr noch: Um überhaupt durch Länder wie das nationalsozialistische Deutschland, den Iran oder Afghanistan fahren und dort filmen zu dürfen, bedurfte es der diplomatischen Vermittlung des U. S. State Department.

Vor diesem Hintergrund wirken die beiden Filme jedoch erstaunlich glatt. Auf den ersten Blick gleichen sie traditionellen Reiseberichten, die schöne Bilder präsentieren und sich dabei auf allgemeine Informationen über Landesgröße und Einwohnerzahl konzentrieren. Dabei ist teilweise durchaus eine ethnologisierende Tendenz zu erkennen. Wo allerdings in den Afrikafilmen noch deutliche Werturteile und rassistische Stereotype dominierten, ergehen sich ihre Nachfolger nicht etwa in vergleichbaren orientalisierenden Klischees, sondern halten sich stärker zurück. Die beiden Filme der Thaws scheinen somit das ausgefeilte Endprodukt eines nicht zuletzt technischen Professionalisierungsprozesses zu sein.

Zugleich bleiben die Filme aber ambivalent und erweisen sich bei genauerem Hinsehen sogar als deutlich politisch aufgeladen. Das lag zweifellos am Zweiten Weltkrieg, der den Verlauf der Reise beeinflusste und in dessen Schatten Larry die Feature-Filme von 1940 fertigstellte. Darüber hinaus befanden sich die Thaws im Nahen Osten[5] in einer Region, in der schon seit Jahren britische, französische, russische und amerikanische Interessen auf antikoloniale Unabhängigkeitsbestrebungen der Bevölkerung trafen.[6] Mit der Türkei, dem Iran und dem Irak durchquerten sie zudem junge Staaten, die tiefgreifende gesellschaftliche und politische Verände268rungen erlebten.[7] Schließlich gerieten die Thaws auf ihrer Reise zudem in das Spannungsfeld zwischen der Kolonialmacht Großbritannien, den Maharadschas und indischen Nationalisten wie Mohandas Karamchand (Mahatma) Gandhi und Chandra Bose. Gerade in Indien erwiesen sich Larry und Peggy keineswegs als neutrale Beobachter. Die Maharadschas, die durch ihre Europa- und USA-Reisen selbst lose mit der High Society verbunden waren, kannten die Thaws teilweise persönlich oder aus der amerikanischen Gesellschaftsberichterstattung. Vor diesem Hintergrund entfalteten die Filme insbesondere während der Drehs eine politische Dimension: Für die Regierungen der bereisten Länder erwies es sich nämlich als äußerst erstrebenswert, in den Filmen des Paars aufzutreten und sich für amerikanische Publika zu inszenieren.

Die Politisierung der Filme und ihre High Society-Perspektive führten dazu, dass »The Great Silk Route« und »India« den Nahen Osten und Indien weniger als Gegenbild zu den Vereinigten Staaten oder gar dem ›Westen‹ konstruierten. Vielmehr entwickelten die Thaws einen eigenen amerikanischen und zugleich von der High Society geprägten Blick, der sich vom zeitgenössischen Orientalismusdiskurs und im Speziellen von der kolonialen Sicht Großbritanniens abgrenzte. Dieser Zugang war stark von der zeitgenössischen amerikanischen Modernisierungseuphorie beeinflusst, die vor allem technologische und infrastrukturelle Errungenschaften mit gesellschaftlichem Fortschritt gleichsetzte.[8] Zugleich blendeten die Thaws damit vollkommen aus, dass sie auf autokratische und diktatorische Herrschaftssysteme trafen, die zudem eng mit dem europäischen Kolonialismus verwoben waren. Im Folgenden sollen zunächst der Verlauf der Reise skizziert und die beiden Feature-Filme  vorgestellt werden. Hier wird deutlich, dass die politische Dimension der Filme bereits in ihrer Narration angelegt war, die im Gegensatz zu Afrika nicht in die Vergangenheit führte, sondern ein fortschrittliches und modernes Bild des Nahen Ostens und Indiens zeichnete. Wie bereits in den vorherigen Kapiteln der Arbeit unterteilen sich die Ausführungen in eine kurze Zusammenfassung der Filme und ihre narrative Rahmung. Darauf aufbauend sollen ihre politische Dimension untersucht und sowohl die Interessen der Filmenden als auch der Gefilmten beleuchtet werden. Dies lässt sich schließlich besonders anschaulich am Beispiel Indiens und der Maharadschas zeigen.