2813.2. »The Great Silk Route« und »India«: High Society und Weltpolitik

Europa und der Nahe Osten

Die Dreharbeiten zu »Black Majesty« konnten die Thaws im Rahmen einer kurzen Europareise nach Paris, London und Brüssel planen und sich dabei die Unterstützung der französischen, britischen und belgischen Kolonialverwaltungen sichern. Die Vorbereitung und Durchführung der Filmreisen durch Europa, den Nahen Osten und Indien am Vorabend des Zweitens Weltkriegs gestalteten sich dagegen komplizierter. Hier musste das Paar Durchfahrtsrechte und Drehgenehmigungen mit jedem einzelnen Staat aushandeln und im Falle Syriens auch noch Drittstaaten wie Frankreich berücksichtigen, das das Völkerbundmandat für das Land innehatte.

Weil die Thaws dies nicht mehr als Privatpersonen regeln konnten, waren sie stattdessen auf die Hilfe der höchsten diplomatischen Ebenen angewiesen.[1] In dem High Society-fernen und männerdominierten Bereich der Politik trat nun bezeichnenderweise Larry als Akteur in den Vordergrund. Im Oktober 1938 gelang es ihm, einen Termin beim U. S. State Department zu erhalten. Hier sagte man ihm Hilfe zu und stellte ihm auch die Mitarbeiter der Near East Divison vor.[2] Im Folgenden wandte sich das State Department zunächst an die diplomatischen Vertretungen der USA in den relevanten Ländern und wies diese an, Verbindung mit den jeweiligen Landesregierungen aufzunehmen und die Thaws vor Ort zu unterstützen. Darüber hinaus vermittelte es dem Paar Kontakte zum britischen Foreign Office sowie dem India Office. Mithilfe der britischen Stellen lernte Larry daraufhin den türkischen Botschafter in London kennen, der ihm die Unterstützung der Behörden in der Türkei zusicherte.[3] Die Thaws wiederum nutzten zusätzlich zu den diplomatischen Kanälen ihre High Society-Stellung und gaben im März 1939 für den iranischen Chargé d’Affaires, den diplomatischen Geschäftsträger des Iran in den Vereinigten Staaten, ein medienwirksames großes Abendessen mit anschließendem Klavierkonzert.[4] Aufgrund all dieser Anstrengungen erhielten sie schließlich nicht nur Reise- und Drehgenehmigungen, die einzelnen Regierungen schickten zudem Dolmetscher, die die Reisegruppe an der jeweiligen Grenze empfingen und für den 282entsprechenden Abschnitt begleiteten. Schließlich trafen sich auch einige Vertreter der Regierungen bzw. die Herrscher selbst mit den Thaws und wagten den Schritt vor die Kamera.[5]

Warum, so stellt sich aber die Frage, setzte sich das State Department überhaupt für die Thaws ein? Offensichtlich hatten Larry und Peggy Ende der 1930er Jahre ihre High Society-Karrieren soweit professionalisiert und mit der Unterhaltungsindus­trie wie mit wissenschaftlichen Institutionen verschränkt, dass sie als vertrauens- und förderungswürdig galten. Außerdem hatte das State Department wohl bestimmte Erwartungen an die Reise des Paares.[6] Indem es den Thaws Empfehlungsschreiben für fremde Nationen ausstellte, verbürgte es sich für Larry und Peggy und machte sie damit zugleich zu seinen Vertretern. Auf diese Weise handelte es sich bei den Treffen der Thaws mit den staatlichen Autoritäten vor Ort nicht nur um Privatvergnügen. Vielmehr fungierten sie in dreifacher Weise als inoffizielle Botschafter der USA. Zum einen knüpften sie als Amerikaner Kontakte, die ihrem Land später hilfreich sein konnten. Zum anderen repräsentierten sie die USA im Ausland. Schließlich machten sie eben diese Beziehungen zu den Herrschern aus dem Nahen Osten und den Maharadschas in ihren Filmen für amerikanische Öffentlichkeiten sichtbar und traten dabei als moderne, kosmopolitische Repräsentanten ihres Landes auf. Auf diese Weise halfen Larry und Peggy den USA »bei der Repräsentation nach innen und außen«.[7]

Tatsächlich setzten die Vereinigten Staaten in der Zwischenkriegszeit in den internationalen Beziehungen verstärkt auf wirtschaftliche und finanzielle Verbindungen anstatt auf offizielle diplomatische Kanäle, wobei stets Privatleuten eine wichtige Rolle zukam.[8] Vor dem Hintergrund der politischen Lage im Nahen Osten lag diese Strategie besonders nahe: Spätestens seit der Jahrhundertwende gewann die Region für die USA strategische Bedeutung, und vor allem die Türkei und Persien bzw. der Iran entwickelten sich zu wichtigen Pufferzonen zur Sowjetunion.[9] Darüber hinaus 283rückten die Erdölvorkommen in den amerikanischen Blick. Denn nach dem Ersten Weltkrieg befanden sich der Irak und Palästina unter britischer, Syrien und der Libanon als Völkerbundmandate unter französischer Kontrolle. Den Iran besetzten bis in die frühen 1920er Jahre britische und sowjetische Truppen.[10] So blieb amerikanischen Ölfirmen der Zugang zu den Ölfeldern der Region weitgehend verwehrt, obwohl das State Department eng mit den Unternehmen zusammenarbeitete und versuchte, ihre Stellung zu stärken.[11] Die amerikanischen Diplomaten verfügten jedoch über eine vergleichsweise schwache Verhandlungsbasis, da die USA während des Ersten Weltkriegs nur mit den Alliierten assoziiert waren und dem Osmanischen Reich nie den Krieg erklärt hatten. Stattdessen setzte Nordamerika auf eine informelle Einflussnahme, etwa als der Schah 1923 einen ehemaligen Mitarbeiter des State Department zum finanziellen Berater im Iran machte.[12] Auch der Iran bemühte sich vor dem Zweiten Weltkrieg vermehrt darum, diplomatische und wirtschaftliche Brücken zu Nordamerika zu schlagen, um ein Gegengewicht zur britischen und sowjetischen Vormacht zu schaffen.[13] In den folgenden Jahren gelang es den kapitalstarken Unternehmen der amerikanischen Ölindustrie wie Standard Oil of New Jersey oder der Texas Oil Company, im Nahen Osten Fuß zu fassen. Während noch 1920 nur fünf Prozent des nicht in den USA geförderten Erdöls aus der Golfregion stammten, war der Ateil bereits 1939 auf vierzehn Prozent angewachsen, was die gestiegene Bedeutung der Region für Nordamerika unterstreicht.[14]

Dass es den Thaws tatsächlich gelang, auf ihrer Reise nützliche Kontakte für die amerikanische Regierung zu knüpfen, legt Larrys Karriere beim War Department während des Zweiten Weltkriegs nahe. Hier besuchte er noch einmal die indischen Herrscher, die er 1940 kennengelernt hatte, um von ihnen Lageberichte abzufragen. Neben diesem konkreten Mehrwert inszenierte das Paar in »The Great Silk Route« zudem die guten Beziehungen zwischen Amerika und den bereisten Staaten und betonte dabei den positiven Einfluss der USA. Der Film gewann somit in mehrfacher Hinsicht eine politische Dimension: Er ermöglichten zuallererst die Zusammentreffen mit Machthabern und Politikern. Die Drehbedingungen bestimmten oftmals deren Form und strukturierten die Interaktionen. Schließlich belegt »The Great Silk Route« ein einvernehmliches Miteinander. Hervorzuheben ist dabei, dass die Aufnahmen internationale Kontakte und Verflechtungen nicht einfach nur illustrierten, sondern sie in einem performativen Akt erst konstituierten.[15] Gleichermaßen erschien es den jeweiligen Landesregierungen wiederum gewinnbringend, die Thaws 284filmen zu lassen. Diese für beide Seiten vorteilhafte Situation soll anhand von drei Beispielen genauer beleuchtet werden: in Europa im nationalsozialistischen Deutschland sowie in der Türkei und im Iran.

Erstens erlaubte das Deutsche Reich der amerikanischen Reisegruppe im Sommer 1939, kurz bevor es seine Grenzen schloss, das Land zu durchqueren (Szene 144). Zudem ließ sich der Wehrmachtsgeneral Baron Heinrich von Behr persönlich dabei filmen, wie er – gestellterweise – mit Larry die Route bespricht; auch ein Fliegerbataillon und marschierende Truppen auf dem Wiener Heldenplatz fanden ihren Weg in den Film.

Szene 144 »The Great Silk Route«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 73 Min., Imperial War Museum.

 

Die Nationalsozialisten nahmen die Durchreise der Thaws offenbar als gute Propagandagelegenheit wahr, um vor amerikanischen Publika Stärke zu demonstrieren. Immerhin verfügte die Wehrmacht über eine eigene Propagandaeinheit, die versuchte, das Heer im Ausland als stark und leistungsfähig darzustellen. Ab April 1940 berichtete das aufwendig produzierte Auslandsmagazin Signal über die Wehrmacht ebenso wie über Freizeit- und Alltagsthemen. Die Zeitschrift orientierte sich dabei in ihrer Aufmachung an dem populären Life Magazine, das schwerpunktmäßig auf farbige Bilder setzte. So ist es nicht unwahrscheinlich, dass der Film der Thaws gut in dieses Konzept passte.[16] Auch wenn der Off-Sprecher mehrfach auf den Krieg verweist, konterkariert die fröhliche Musik allerdings die ernste Botschaft und der Film transportiert tatsächlich ein Bild der Stärke und Effizienz. Der »long sleek Mercedes« des Generals, auf den der Erzähler eigens hinweist, verband dabei technischen Fortschritt und einen schicken High Society-Lebensstil.

In der Türkei gingen die Politiker noch einen Schritt weiter. Der Presseverantwortliche im Außenministerum, Burhan Asaf Belge, reiste mit den Thaws von Istanbul nach Ankara, gab ein festliches Abendessen für das Paar, an dem mehrere türkische Staatsminister teilnahmen, und stellte ihm zwei Privatzüge zur Verfügung.[17] Peggy hielt beeindruckt in einem Brief fest: »Mr. Booram [!] Belge who seems to own Ankara […] has given us two private trains, one to carry the trailer & trucks & one for ourselves & the servants, the first train to go straight through & the other to stop whenever we want to photograph.«[18] Die zuvorkommenden Bemühungen Belges lassen sich in den größeren Kontext der türkisch-amerikanischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit einordnen: Münir Ertegün, der türkische Botschafter in 285Washington D. C. zwischen 1934 und 1944, pflegte ein gutes Verhältnis zum State Department, und es ist wahrscheinlich, dass die Thaws von dieser Beziehung profitierten.[19] Denn Ertegün war nur zu deutlich bewusst, welch großen Einfluss die amerikanischen Massenmedien auf die Wahrnehmung seines Heimatlandes in den USA hatten. So versuchte er mehrfach über das State Department, kritische Presseberichterstattung zu verhindern – die New York Times etwa nannte Atatürk 1936 »Dictator of Turkey«.[20] Zudem verhinderte Ertegün erfolgreich die Hollywoodverfilmung von »The Forty Days of Musa Dagh«, die den Völkermord an den Armeniern thematisieren sollte.[21] Als Larry und Peggy allerdings 1939 aufbrachen, sah nicht nur das State Department in der Türkei einen zuverlässigen Partner im Nahen Osten; auch die amerikanische Presse berichtete inzwischen überwiegend wohlwollend über die Westernisierungsbemühungen des Landes.[22]

Für die Türkei zahlte sich die Kooperation mit den Thaws aus, denn wie bereits gezeigt rückt »The Great Silk Route« die junge Republik in ein überaus positives Licht und zieht immer wieder ausdrückliche Verbindungen zur aktuellen Politik und ihren Institutionen wie dem Kriegs- oder dem Gesundheitsministerium und nicht zuletzt zu Kemal Atatürk selbst (Szene 145).[23] In langen Schwenks und Kamerafahrten präsentiert der Film teilweise aus einer Untersicht die riesigen Gebäude, die an den Art déco- und Internationalen Stil angelehnt waren.[24] Der Off-Sprecher lobt die gute Eisenbahninfrastruktur im Land und die neue laizistische Ausrichtung, während die schnelle, treibende Musik Signalwörter wie »newness« und »modern« akustisch unterstreicht.

Szene 145 »The Great Silk Route«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 73 Min., Imperial War Museum.

 

In den fertigen Film schaffte es Burhan Belge selbst dann zwar nicht. Stattdessen hatte aber – typisch für die High Society – seine junge Frau einen kleinen Auftritt, 286die später selbst als eine Person gelten sollte, die »famous for being famous« war:[25] Zsa Zsa Gabor (Szene 146).

Szene 146 »The Great Silk Route«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 73 Min., Imperial War Museum.

 

 

Obwohl diese kurzen Aufnahmen kaum als Karrieresprungbrett nach Hollywood dienten, maß Gabor dem Zusammentreffen mit den Thaws in ihren Memoiren doch einen besonderen Stellenwert bei. Denn als sie – nach der Trennung von Belge – Anfang der 1940er Jahre nach Hollywood ging, um Schauspielerin zu werden, öffnete ihr gerade ein Anruf der Thaws die Tür zu deren alten Freunden Basil und Ouida Rathbone. Der Filmschauspieler und seine Frau galten als zentrale Anlaufstelle für Neuankömmlinge in Hollywood und halfen auch Gabor bei ihrem Karrierestart.[26] Diese Episode zeigt nicht nur eindrücklich, welch große Rolle persönliche Bekanntschaften im Showbusiness spielen konnten. Darüber hinaus lässt sich durchaus annehmen, dass die Thaws Gabor unterstützten, weil sie im Film ihre Medienkompetenz immerhin angedeutet hatte. Zumindest unterstellt der Erzähler der jungen Frau, sie habe sich besonders auf die Filmaufnahmen gefreut. Einer einfachen Reisebekanntschaft hätten Larry und Peggy jedenfalls kaum derart weitergeholfen.

Im Vorfeld der Reise waren die Thaws drittens recht besorgt, ob sie überhaupt eine Drehgenehmigung für den Iran bekommen würden.[27] Von Roy Chapman Andrews, dem Direktor des American Museum of Natural History in New York, wussten Larry und Peggy, dass die Regierung in Teheran eine solche Erlaubnis nur selten erteilte. Andrews selbst versuchte 1938 unter großen Schwierigkeiten, eine Forschergruppe im Auftrag des Museums in den Iran zu schicken.[28] Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Teheran-Szene in »The Great Silk Route«, fällt auf, dass sie außergewöhnlich lang ist. Der Kameramann John Boyle durfte nicht nur in der Stadt filmen, sondern auch die iranischen Herrschaftsinsignien – Zepter, Schwert und Thron – im Golestanpalast. Das war sicherlich kein Zufall, hatte sich hier Reza Shah Pahlavi im April 1926 doch selbst zum Herrscher gekrönt.[29]

Auch wenn keine Korrespondenz überliefert ist, scheint es mit Blick auf die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Iran und den USA durchaus naheliegend, dass die Thaws mit der Unterstützung des State Department leichteres Spiel hatten als eine Expedition des New Yorker Naturkundemuseums. Gerade Ende 1938 entspannte sich auch eine diplomatische Krise, die das Verhältnis beider Länder zwischen 1936 und 1938 strapaziert hatte. Nachdem 1936 ein hoher iranischer Diplomat 287in Maryland wegen eines Verkehrsdelikts verhaftet und wieder freigelassen worden war, verweigerte die amerikanische Regierung eine offizielle Entschuldigung – vermutlich, um implizit die enge Verbindung zwischen dem Iran und Deutschland zu kritisieren.[30] Sie folgte erst 1938, sodass die Thaws möglicherweise auch vom neuentfachten guten Willen der jeweiligen Landesregierung profitierten. Nachdem insbesondere die amerikanische Presse Stimmung gegen den Iran gemacht hatte, bot Larrys und Peggys Film ähnlich wie für die Türkei das Potenzial, eine positive Gegenerzählung zu etablieren.[31]

Entsprechend würdigt der Film auch das Land und insbesondere Reza Shah Pahlavi, der Teheran dem Sprecher zufolge »from a collection of mudd hovels to one of the most modern cities« machte (Szene 147). Die Aufnahmen ähneln der Ankara-Szene mit ihren langen Schwenks über staatliche Bauten wie die iranische Nationalbank und das Außenministerium sowie mit der optimistisch-treibenden Hintergrundmusik. Zugleich stellt der Film die amerikanische Präsenz vor Ort zur Schau, indem er den amerikanischen Gesandten und seine Familie zeigt und damit implizit einen Zusammenhang zwischen dem Fortschritt im Land und dem Einfluss der USA konstruiert.

Szene 147 »The Great Silk Route«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 73 Min., Imperial War Museum.

 

Darüber hinaus scheinen die Thaws sogar mit den iranischen Behörden vereinbart zu haben, vor etwaigen Veröffentlichungen erst deren Einverständnis einzuholen. Zumindest den Artikel für das National Geographic Magazine legte Larry dem iranischen Gesandten in Washington D. C. vor, der sogleich bat, einen Abschnitt zu streichen, in dem die Thaws berichteten, wie sie nach einer Autopanne im Iran einen Tag lang auf Ersatzteile warten mussten. Der Gesandte fürchtete, sein Land könne dadurch in den Augen der amerikanischen Leser/innen rückständig erscheinen: »[S]hould you not think you might do without this part, for it is truly not very flattering, nor does it make a particularly good impression on the reader.«[32] Diesem Gesuch kamen die Thaws bereitwillig nach und strichen die entsprechenden Zeilen.[33] Das Beispiel belegt noch einmal besonders gut, dass auch die Regierungen der bereisten Länder die Filme und Artikel der Thaws in Bezug auf ihre Außenwirkung 288für wichtig hielten und selbst großen Wert auf ein – nach amerikanischem Vorbild – fortschrittliches Image legten.[34]

Die positive Darstellungsweise der Türkei und des Iran entsprach der zeitgenössischen Modernisierungseuphorie, die in den 1930er Jahren die USA und Europa erfasste und von der Vorstellung ausging, mithilfe von Technologie, Industrie, Architektur und Wissenschaft ganze Gesellschaften zum Besseren verändern zu können.[35] Was sich in den 1950er und 1960er Jahren nicht nur in den Vereinigten Staaten zur sogenannten »Modernisierungstheorie« verdichtete, prägte bereits die Zwischenkriegszeit maßgeblich.[36] In dieser Hinsicht dürften die türkischen und iranischen Großprojekte den Thaws und ihrem Kameramann vertraut erschienen sein. Allerdings war die Modernisierungsfrage in Nordamerika deutlich mit der Stärkung demokratischer Werte verknüpft.[37] Dass die Thaws in der Türkei und dem Iran mit Modernisierungsdiktaturen konfrontiert waren, blendet »The Great Silk Route« jedoch aus. Dieser wohlwollende Blick mag auch am amerikanischen Selbstverständnis gelegen haben, der die USA in einer Rolle als Modernisierungshelfer für diejenigen Nationen sah, die scheinbar noch nicht auf der gleichen Entwicklungsstufe angekommen waren.[38] Die Thaws inszenierten sich in beiden Filmen nicht zuletzt selbst als Vorbilder, die dem König von Afghanistan und dem Maharadscha von Mysore mit ihrem Wohnmobil technische Innovationen näherbrachten.

Während sich die Erwartungen des State Department an die Thaws nur vermuten lassen, macht das Beispiel Großbritanniens konkret nachvollziehbar, welch große politische Bedeutung die Behörden ihren Filmen beimaßen. Nachdem das amerikanische Ministerium einen Kontakt zum britischen India Office vermittelt hatte, 289zeigte sich dessen Information Department hoch interessiert an dem Projekt und schrieb an den Vizekönig von Britisch-Indien, Lord Linlithgow, sowie an die einzelnen Provinzialverwaltungen. Federführend wirkte hier A. H. Joyce, der die Öffentlichkeitsarbeit der britischen Regierung für Indien in den 1930er Jahren maßgeblich prägte.[39] Der Direktor des Imperial Institute, Sir Harry Lindsay, wandte sich darüber hinaus ebenfalls an die britischen Gouverneure und an die Verwaltungen der indischen Fürstenstaaten, also an diejenigen Gebiete, die während des British Raj von 1858 bis 1947 nicht direkt von Großbritannien, sondern von lokalen Herrschern regiert wurden.[40]

Die Thaws kamen mit dem Britischen Empire in Kontakt, als es sich in einer tiefgreifenden Transformationsphase befand. Nach dem Ersten Weltkrieg vergrößerte sich dessen Herrschaftsgebiet noch einmal; mit der räumlichen Ausdehnung ging jedoch keine stärkere Vormachtstellung Großbritanniens einher. Vielmehr standen die gewachsenen Aufgaben und Verpflichtungen in einem deutlichen Gegensatz zu den wirtschaftlichen und finanziellen Ressourcen des Empire, sodass Patrick Cohrs von einer »danger of strategic ›over-extension‹« spricht.[41] Vor diesem Hintergrund erklärt sich das Interesse der britischen Kolonialverwaltung an Filmmaterial, das das Empire in einem positiven Licht darstellte. Vor allem das Imperial Institute unter der Leitung von Harry Lindsay setzte auf Filme als Instrument zur Herrschaftsstabilisierung.

Hier lohnt ein genauerer Blick auf diese Institution. Das Imperial Institute wurde 1887 anlässlich des fünfzigsten Krönungsjubiläums von Queen Victoria gegründet. Es sammelte zum einen Wissen über das Empire und stand Politik und Wirtschaft beratend zur Seite; dabei arbeitete es auch eng mit dem Empire Marketing Board zusammen. Zum anderen informierte es die englische Bevölkerung über die weltweiten Besitzungen des Empire. Zu diesem Zweck verfügte das Imperial Institute über Ausstellungsräume und seit 1927 auch über ein eigenes Kino samt Filmarchiv, das seine Bestände kostenlos an Schulen und Vereine verlieh.[42] Diese dokumentarischen Unterrichtsfilme (ca. fünfzehn Minuten auf sechzehn Millimeterrollen) hielt Harry Lindsay für äußerst wichtig, um das Empire zu erhalten. In einer Rede zum Thema »India’s Place in Empire Films« erläuterte er im Januar 1939, wie zentral es aus seiner Sicht sei, Filme im Rahmen des Geschichts- und Geografieunterrichts einzusetzen: »Every lesson in history or geography should have behind it some sort of emotional stimulus which will help it along and set it through. That is just the stimulus which a 290really first-class ›background‹ film can provide. […] [T]he work of the Empire Film Library is of the order of a great national and Empire service.«[43]

Während der Bestand zu Kanada und Südafrika Ende der 1930er Jahre 391 bzw. 143 Filme umfasste, verfügte das Institut nur über fünfzig Indienfilme. Gerade nach diesen war die Nachfrage allerdings besonders groß.[44] So erklärte sich Lindsay bereit, den Thaws Kontakte nach Indien zu vermitteln, forderte dafür allerdings als Gegenleistung Filmmaterial für sein Archiv. Dieses sollte »the life, scenery or industries of India«[45] illustrieren und vor allem die großen Stahlwerke und Kohleminen in den britischen Gebieten thematisieren.[46] Larry akzeptierte dieses Angebot bereitwillig. Nicht nur die Politiker in London erkannten allerdings den Wert von Filmen für das Empire. Die britischen Gouverneure von (u. a.) Kalkutta, Madras, Bombay, Assam und nicht zuletzt der Sekretär des indischen Vizekönigs wie auch die Verwaltungen der indischen Fürstenstaaten aus Mysore und Hyderabad unterstützten die Thaws sofort.[47] Dabei schlugen sie selbst zahlreiche Drehorte vor. Der Gouverneur von Bihar zeigte sich sogar enttäuscht darüber, dass seine Provinz nicht im Reiseplan vorkam, und bat Harry Lindsay, dem Paar den Besuch von Bihar ans Herz zu legen.[48] Als Gegenleistung für ihr Entgegenkommen erhielten die Regierungen und Herrscher schließlich Kopien der Filme und Fotos aus ihren jeweiligen Ländern und konnten das Material somit auch selbst für ihre innenpolitischen Zwecke nutzen.[49]

Die Maharadschas und die High Society

Obwohl viele britische Gouverneure ihre Unterstützung zugesagt hatten, standen in »India« letztlich die indischen Fürstenstaaten im Mittelpunkt. Diese machten ein Drittel des Subkontinents aus, ihre Zahl schwankte zwischen 500 und 600 und umfasste Staaten wie Hyderabad mit rund sechzehn Millionen Einwohner/inne/n sowie eine Reihe kleinerer Reiche mit nur 200 Untertan/inn/en.[50] Die Thaws wählten für »India« freilich die bedeutenderen unter ihnen aus und konzentrierten sich dabei auf deren Herrscherdynastien. So zeigt der Film die Maharadschas von Patiala, Jaipur, Jodhpur, Bikaner, den Thronfolger des Maharanas von Udaipur, den Geakwad 291von Baroda, den Nizam von Hyderabad und seine Söhne sowie deren Ehefrauen. Die britische Kolonialverwaltung blendet der Film dagegen weitgehend aus, die indische Unabhängigkeitsbewegung kommt gar nicht vor. Dieser Fokus ist bemerkenswert, denn zum einen standen die Thaws im Vorfeld der Reise in engem Kontakt mit den britischen Behörden. Die Nationalbewegung um Mahatma Gandhi trat in den späten 1930er Jahren zum anderen besonders öffentlichkeitswirksam auf und war auch in den amerikanischen Medien präsent: Gandhi war immerhin 1931 »Man of the Year« des Time Magazine.[51] So schrieb Peggy in einem Brief nach Amerika: »I’m trying to persuade Larry we ought to go and see & photograph Gandi [!]. I think as long as he’s making a comprehensive study of India he ought to anyway. I think it would be an interesting experience.«[52] Doch Larry hatte andere Pläne. Um die Indienfilme analysieren und ihre einseitige Ausrichtung verstehen zu können, ist es zunächst naheliegend, die politische Lage und das Verhältnis der lokalen Fürsten zur britischen Krone kurz zu skizzieren.  

Die Forschung hat die Princely States seit der Unabhängigkeit Indiens 1947 ganz unterschiedlich bewertet und entweder ihre Autonomie betont oder sie als britische Vasallenstaaten marginalisiert.[53] Bereits ihre Bezeichnung ist missverständlich; hierbei handelte es sich nämlich um eine Kreation des britischen Kolonialapparates, der das Sanskritwort für König – Raja – bewusst mit Fürst (prince) übersetzte und damit Herrscher schaffen wollte, die der britischen Krone untergeordnet waren.[54] Wie die Imperialismusforschung hervorhebt, ist es ebenfalls ungenau, die Beziehung zwischen den Fürstenstaaten und der Kolonialverwaltung als »indirekte Herrschaft« zu klassifizieren und damit eine einseitige Abhängigkeit festzuschreiben, auf die bereits das Empire mit diesem Terminus abzielte.[55] Tatsächlich hatte die britische Einflussnahme in Form von Titeln, Geld- oder Landzuweisungen weitreichende Konsequenzen für die politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten in den einzelnen Regionen.[56] Andererseits blieb die Kolonialverwaltung aber auf die Kooperation der Maharadschas angewiesen, und beide profitierten voneinander, wenn sie jeweils eigene Ziele verfolgten.[57]

292Gerade Ende der 1920er Jahre spitzte sich die politische Situation in Indien jedoch zu, und Herrscher wie Anhänger der Nationalbewegung wollten gleichermaßen die britische Vormacht zurückdrängen. Um diese Opposition in geregelte Bahnen zu lenken, initiierte Premierminister Ramsey MacDonald in London zwischen 1930 und 1932 drei Round Table Conferences, bei denen mögliche Reformen auf der Tagesordnung standen; hier trafen Vertreter der britischen und indischen Parteien sowie der Fürstenstaaten zusammen, wobei vor allem letztere als einflussreiche Verhandlungspartner auftraten.[58] Der 1935 vom britischen Parlament verabschiedete Government of India Act sollte dann als Blaupause für ein föderales Indien, bestehend aus unabhängigen Provinzen und den Fürstenstaaten unter britischer Führung, dienen. Auf seiner Grundlage fanden 1937 in den britischen Gebieten des Subkontinents Wahlen zu Regionalparlamenten statt, aus denen der Indian National Congress unter Gandhi und Jawaharlal Nehru als Sieger hervorging. Das setzte nicht nur die Kolonialverwaltung unter Druck, sondern auch die Herrscher, die ihre Mehrheiten in einer zukünftigen Nationalversammlung gefährdet sahen.[59]

Die Lage der Maharadschas verschlechterte sich 1938 noch weiter, als Anhänger des National Congress damit begannen, in den Fürstenstaaten für mehr politische Mitbestimmung zu demonstrieren.[60] Zugleich verhandelte die britische Regierung zwischen 1935 und 1939 aber weiter mit den indischen Herrschern über eine mögliche Föderation zwischen British India und Princely India, sodass die Maharadschas nach wie vor eine wichtige politische Kraft darstellten.[61] Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs setzten die Beteiligten die Gespräche zwar aus; nachdem der Vizekönig von Britisch-Indien allerdings den Kriegszustand ausgerufen hatte, stellten sich die meisten indischen Herrscher auf die Seite der Kolonialmacht, gewährten finanzielle und materielle Unterstützung und öffneten den Werbern der britisch-indischen Armee ihre Grenzen.[62]

Als die Thaws 1940 durch Indien reisten, befanden sich die Maharadschas also einerseits in einer handlungsmächtigen Position gegenüber Großbritannien. Andererseits nahm der Einfluss der Unabhängigkeitsbewegung zu, und die Zukunft des Subkontinents sowie die Rolle der indischen Fürstenstaaten darin blieben ungewiss. So dürfte es den meisten Herrschern durchaus gelegen gekommen sein, in den Filmen der Thaws ihre Macht zu inszenieren. Der britischen Kolonialverwaltung dagegen kam es darauf an, die Stärke des Empire hervorzuheben.

Dass sich »India« so stark auf die Princely States konzentrierte, liegt sicherlich zum einen daran, dass wohl vor allem Larry und sein Kameramann die Bilder der Herrscher und ihrer Paläste, der prunkvollen Zeremonien und des wertvollen 293Schmucks für besonders geeignet hielten, um amerikanische Publika zu unterhalten und zu beeindrucken. Zum anderen kannten die Thaws die Maharadschas und ihre Familien auch teilweise persönlich, zumindest aber aus der amerikanischen Gesellschaftsberichterstattung. Denn die indischen Herrscher hatten oftmals Universitäten in England und den USA besucht, reisten regelmäßig durch Europa und die USA, hielten sich an den entsprechenden High Society-Orten auf und waren für die Dauer der Reisen mit der High Society räumlich und medial verbunden. So konnte man bereits ab den 1910er Jahren in der amerikansichen Tagespresse und in den Magazinen lesen, wenn etwa der Gaekwad von Baroda während seines Aufenthalts in St. Moritz vom Skisprung begeistert war, in einem Pariser Nachtclub in den frühen Morgenstunden Gloria Vanderbilt, Harry Morgan und die Maharani von Kusbaha gesichtet wurden oder der Maharadscha von Indore und seine Frau Freunde in Los Angeles besuchten.[63] Darüber hinaus berichtete das Life Magazine in den 1930er Jahren immer wieder bildreich über die indischen Herrscher.[64] Kein anderes Thema jedoch sorgte für solche Schlagzeilen wie die Hochzeit des abgedankten Maharadschas von Indore, der 1928 die Amerikanerin Nancy Miller als dritte Ehefrau heiratete, nicht zuletzt wegen der öffentlichen Kontroverse um die Heirat zwischen einer Amerikanerin und einem Inder.[65]

Dass Peggy diese Geschichte in der Presse verfolgt hatte, zeigt, wie präsent die Maharadschas in der amerikanischen Gesellschaftsberichterstattung waren. So hielt sie 1934 aufgeregt in ihrem Tagebuch fest, dass sie das Paar auf der Schiffsreise nach Afrika gesehen habe. Peggys Bericht klingt dabei selbst wie eine Klatschgeschichte von einer Society Page:

[I] was interested to find the Maharajah of Indore and his American wife, Nancy Miller, on board – and I’m afraid I rather stared at them […]. According to what was told me, his first wife, an Indian, was unfaithful to him and she and her lover escaped together. […] Then, I remember, at the time that he married this wife – a young girl from Boston […] – there was enormous publicity.[66]

Die Maharani von Kapurthala dagegen – oder Brinda, wie Larry sie vertraulich beim Vornamen nannte – kannten die Thaws aus New York und besuchten sie auf ihrer 294Reise über den Subkontinent.[67] Brinda Devi und ihre Schwägerin Sita machten die Verbindung zwischen den indischen Herrschern und der High Society ebenfalls augenfällig: Beide waren in Europa zur Schule gegangen, hielten sich regelmäßig in Paris auf und galten als modische Trendsetterinnen.[68] Als die Thaws zudem den Maharadscha von Jaipur trafen, hielt Peggy in einem Brief fest: »He was very charming & we discovered many mutual acquaintances«.[69] Bevor Larry und Peggy schließlich im Sommer 1939 aufbrachen, lernten sie den Maharadscha von Rajpipla bei einer Party in der Palm Bar des Waldorf-Astoria kennen, die eine gemeinsame Freundin der Thaws für den indischen Herrscher gab.[70]

Larrys und Peggys Sicht auf Indien war somit doppelt vorgeprägt. Zum einen warfen die Thaws und ihr Kameramann einen amerikanisch-westlichen Blick auf den Subkontinent und zogen Verbindungen zu ihrem gewohnten Leben in Nordamerika. Zum anderen übernahmen sie die Perspektive der Gesellschaftsberichterstattung auf die Maharadschas. Beide Punkte sollen im Folgenden dargestellt werden.

In »India« verkörperten die Maharadschas Moderne und Fortschritt nach amerikanischem Maßstab. Der Film fängt das sowohl auf der Bild- als auch auf der Textebene ein und vereint Szenen von prächtigen Palästen und Ritualen, von unglaublichen Reichtümern und märchenhafter Kleidung mit Aufnahmen von Flugzeugen und schnellen Autos oder moderner Architektur; der Sprechertext verknüpft diese Bilder darüber hinaus mit Adjektiven wie »progressive«, »modern« oder »new«. Der Referenzrahmen war dabei stets Nordamerika. Nach den Aufnahmen des historischen Palastes in Jodhpur etwa steht der herrschende Maharadscha als begeisterter Pilot geradezu paradigmatisch für Fortschritt, und das nicht zuletzt, weil er ein amerikanisches Flugzeug, eine »speedy American Lucky«, fliegt (Szene 148). Wie schon in »The Great Silk Route« gibt die Filmmusik in entscheidender Weise den Deutungsrahmen vor: Während die Aufnahmen des Palastes mit lieblicher Streichermusik unterlegt sind, werden die Klänge in der anschließenden Szene mit dem Flugzeug schneller und kräftiger.

Szene 148 »India«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 82 Min., Imperial War Museum.

 

In der darauffolgenden Aufnahme der Hochzeit des Prinzen von Udaipur und der Prinzessin von Bikaner präsentiert der Film eine Reihe von Geschenken: Das junge Paar bekommt nicht nur eine 295traditionelle Kutsche und einen Elefanten, sondern auch einige der neuesten amerikanischen Automodelle (Szene 149).

Szene 149 »India«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 82 Min., Imperial War Museum.

 

Hyderabad schließlich glänzt im Film mit einem Museum, einer Kunsthochschule, einem Krankenhaus und einer Pfadfindergruppe (Szene  150). »Hyderabad has caught up with the West in many ways«, verkündet der Off-Sprecher euphorisch; die fröhliche Filmmusik untermalt seine Worte. Dass die Bewohner/innen dieses Staates noch vergleichsweise rückständig ihre Wäsche in einem Fluss waschen, verurteilt der Film auffälligerweise nicht, was verglichen mit dem Afrikafilm »Black Majesty« den wohlwollenden Tonfall der Thaws gegenüber Indien unterstreicht.

Szene150 »India«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 82 Min., Imperial War Museum.

 

Hyderabad erwies sich im Film aber noch aus einer weiteren Perspektive als fortschrittlich und weltoffen. Sein Herrscher, der sogenannte Nizam, setzte sich »India« zufolge für die Konsumgüterproduktion ein und organisierte deren Herstellung und den Vertrieb in einem mondänen Laden (Szene 151). In diesem Zusammenhang entstand auch die bereits erwähnte Szene, in der Peggy einen Sari anprobierte und so die indische Kultur mit der Konsumorientierung und Modebegeisterung der High Society in Einklang brachte.

Szene 151 »India«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 82 Min., Imperial War Museum.

 

Wie »The Great Silk Route« teilte auch »India« die zeitgenössische Modernisierungsfaszination und stilisierte die Maharadschas zu fortschrittlichen Herrschern, die sich scheinbar für das Wohl ihrer Bevölkerung einsetzten. Mit den Bildern von Hyderabad oder dem Staudamm in Mysore zog der Film dabei eine deutliche Parallele zu den Vereinigten Staaten. Wenn »India« das Britische Empire in diesem Kontext weitgehend ausblendete, lassen sich drei Gründe dafür anführen: Erstens spielte die Kolonialverwaltung entwicklungspolitisch – nicht nur im Fall von Britisch-Indien – eine recht ambivalente Rolle. Zwar verabschiedete das britische Parlament 1929 den Colonial Development Act, um von da ab jährlich eine Million Pfund in alle Kolonien zu investieren. Mit Blick auf das gesamte Empire handelte es sich allerdings um eine verhältnismäßig kleine Summe.[71] Im Zuge der Weltwirtschaftskrise rückte außerdem nur wenige Monate später die Stabilisierung des Mutterlandes zurück ins Zentrum der britischen Politik.[72] Die Entwicklungsarbeit, die Großbritannien darüber hinaus vor Ort leistete, zielte in erster Linie darauf ab, eine Infrastruktur aufzubauen, die den Abtransport von Rohstoffen aus den Kolonien ermöglichen sollte.[73]

Zweitens herrschte in den USA eine weitverbreitete kritische Einstellung gegenüber den europäischen Kolonialmächten, die sich u. a. gegen deren Modernisie296rungsversäumnisse richtete.[74] Dagegen sahen sich Amerikaner/innen wie die Thaws als Vertreter/innen einer transatlantischen Ordnung, die – als Gegenentwurf zu den konkurrierenden Kolonialreichen – Stabilität, Fortschritt und liberale Marktwirtschaft miteinander in Einklang brachte: »a new, distinctly American Vision for a more advanced and secure international system and model of a more progressive and effective welfare state.«[75]

Drittens fühlten sich die Thaws den Maharadschas persönlich über die High Society verbunden. So inszeniert »India« die Herrscher ganz im Sinne der Gesellschaftsberichterstattung nahbar und als Privatpersonen. Das soll beispielhaft an drei Szenen gezeigt werden. Dieser Eindruck entstand vor allem über räumliche Nähe; so zeigt der Film nicht nur die glanzvollen öffentlichen Auftritte, sondern begleitet die Herrscher auch in ihre – zum Teil sehr modernen – privaten Domizile. Die Villa des Maharadschas von Jaipur etwa erinnert mit ihren klaren Linien, symmetrischen Formen und den verglasten Fronten an die Bauhaus-Architektur (Szene 152).

Szene 152 »India«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 82 Min., Imperial War Museum.

 

Dass der Film hier Moderne und Nahbarkeit gleichermaßen inszenierte und zusammenführte, zeigt auch das Zusammentreffen zwischen Peggy und dem Thronfolgerpaar von Hyderabad. Dieses kommt in einem Rolls Royce an und nimmt in einer sogenannten swing porch, im Deutschen auch als Hollywoodschaukel bekannt, Platz (Szene 153).

Szene 153 »India«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 82 Min., Imperial War Museum.

 

Der Off-Sprecher betont zudem die Fortschrittlichkeit der Prinzessin Dürrühşehvar, einer Tochter des ehemaligen türkischen Sultans, die unverschleiert auftritt. Er erläutert: »Because of the emancipation of Turkish women the princess wears no veil.« Auf diese Weise griff »India« die Fortschrittserzählung über die Türkei in »The Great Silk Route« auf. Gerade die progressiven Geschlechterbeziehungen in seinem Land hatte auch der türkische Botschafter Münir Ertegün 1934 bei einem Interview für die Society Page der Washington Post betont.[76] Die darauffolgende Szene präsentiert den jüngeren Bruder des Thronfolgers mit seiner Frau Niloufer, die ebenfalls eine türkische Prinzessin und die Cousine Dürrühşehvars war. In Großaufnahmen rückt die Kamera nah an die Gesichter der königlichen Familie heran und konzentriert sich dabei vor allem auf die beiden Frauen, die wie Brinda und Sita Devi als internationale Trendsetterinnen galten.[77] Der Thronfolger und sein jüngerer Bruder hatten die beiden türkischen Prinzessinnen 1931 in Nizza in einer Doppelhochzeit geheiratet und ihre 297Hochzeitsreise, wie in der High Society üblich und nicht zuletzt wie von den Thaws selbst demonstriert, an der Riviera verbracht.[78]

Schließlich durften die Thaws während der Hochzeitsfeierlichkeiten der Prinzessin von Bikaner und dem Prinzen von Udaipur an einem Festmahl teilnehmen und es zugleich filmen. Hier treten Larry und Peggy wie bei einem ungezwungenen Zusammensein unter Freunden auf, die auch der Erzähler für die Zuschauer als alte Bekannte einführt. Die Nahaufnahmen der Maharadschas verstärken den Eindruck der Nähe und Vertrautheit noch. Auf diese Weise kreierte »India« ähnliche Innenansichten wie sie die Gesellschaftsberichterstattung über die High Society bot (Szene154).

Szene 154 »India«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 82 Min., Imperial War Museum.

 

 

Die Aufnahme des Banketts macht jedoch auch ein Problem sichtbar, das dem Indienfilm eigen ist. Da die meisten Ehefrauen der Maharadschas zurückgezogen in Zenanas lebten, den abgeschlossenen Bereichen eines Palastes, die Männer nicht betreten durften, fehlte »India« die genuine High Society-Perspektive auf Frauen. Deren Rolle nahmen stattdessen teilweise die Maharadschas selbst ein. Mit ihren auffälligen Kleidern und wertvollen Schmuckstücken eröffneten diese auch eine besondere Perspektive auf Mode und Körperlichkeit. So thematisiert »India« in zahlreichen Nahaufnahmen und mit ausführlichen Kommentaren Stoffe, Schnitte, Verzierungen und Edelsteine. Diese Szenen stehen Maury Pauls schillernden Beschreibungen der High Society-Damen bei der Eröffnung der Metropolitan Opera nur wenig nach. Das macht schon ein Ausschnitt sichtbar, der den Gaekwad von Baroda und dessen »glittering collection of diamonds« zeigt (Szene 155).

Szene 155 »India«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 82 Min., Imperial War Museum.

 

Noch anschaulicher demonstriert dies allerdings die Geburtstagsfeier des Maharadschas von Patiala. Eine Großaufnahme rückt die »famed and fabulous Patiala diamonds« auf seiner Brust ins Zentrum der Szene (Szene 156).

Szene 156 »India«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 82 Min., Imperial War Museum.

 

Etwas später im Film befinden sich schließlich unter den Hochzeitsgeschenken an die Enkeltochter des Maharadschas von Bikaner noch einmal Schmuckstücke, die, so erläutert der Erzähler, auch einem Juwelier an der Fifth Avenue alle Ehre machen würden: »an array of jewelry that would do credit to Tiffany« (Szene 157).

Szene 157 »India«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 82 Min., Imperial War Museum.

 

Damit unterstrich der Off-Sprecher die auffälligen Gemeinsamkeiten zwischen den indischen Fürsten und der New Yorker High Society, die eine Vorliebe für teure Edelsteine verband. Nachdem Diamanten aus indischen Minen im 18. Jahrhundert aus der Mode gekommen waren, erlebten sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Comeback. Populäre Juweliere wie Jacques Cartier orientierten sich in ihren Schmuckkollektionen an den indischen Kreationen. Der Maharadscha von Patiala wiederum, der mit seinem Geschmeide einen prominen298ten Auftritt in »India« hat, ließ sogar einige seiner eigenen Stücke von Cartier im Art déco-Stil umarbeiten.[79] Diese Verbindung stellte auch der Cholly Knickerbocker her, der in zwei Artikeln über »India« darauf abzielte. Über die Galavorführung des Films im Grandhotel St. Regis berichtete er 1940:

Mrs. Frank Vance Storrs, with emeralds that almost rivaled those displayed by the maharajahs, […]. […] Beth Leary, in white lace and wearing that fabulous topaz necklace, the weight of which makes her round-shouldered […]. […] And when the bejeweled ladies in the audience glimpsed some of the diamonds worn by the Indian potentates […] they were so disgusted with their own »sparklers« I almost feared they’d dash to the windows of the Viennese Roof and cast their gems out into the night […]. Fortunately, Vincent Astor has had the Viennese Roof air-conditioned and the windows don’t open![80]

Als Larry »India« rund vier Monate später vor dem abgedankten König Edward und Wallis Simpson in Nassau auf den Bahamas zeigte, fand Maury Paul erneut ähnliche Worte:

The jewels worn by the potentates of India literally took Wallis’ breath away. And I’m certain she decided her own not unimpressive »sparklers« were mere small fry after gazing at the diamond necklace worn by the Maharajah of Patiala, which contains 18,000 carats of diamonds! Wallis raved about the splendor of the Indian jewels at the conclusion of the films. For she is definitely »jewel-conscious.«[81]

Diese Art, den eigenen Körper zu verschönern, war in der High Society freilich weiblich konnotiert. Während das erwähnte Beispiel Rudolph Valentinos als Scheich zudem verdeutlicht, dass der männliche Körper im orientalischen Kontext Gefahr lief, aus westlicher Sicht als feminin zu erscheinen, galt dies nicht für die Maharadschas. Tatsächlich stellte »India« den Bildern der geschmückten Männer einen Text gegenüber, der ihre Virilität und Macht unterstrich, zum Beispiel wenn der Erzähler betont, der Maharadscha von Patiala herrsche über anderthalb Millionen Untertanen. Auf diese Weise ordnete der Text die Bilder sprachlich für das westliche Publikum ein und entwarf ein Gesamtbild, in dem Männer, die Wert auf ihr Aussehen, Schmuck und Kleidung legten, dennoch nicht als weiblich gelten mussten. In den späten 1930er Jahren, so wird hier insgesamt deutlich, hatte die High Society eine transnationale Dimension erreicht, deren Verbindungen auch bis in den globalen Süden reichten.

Indem die Thaws die Maharadschas so stark in den Vordergrund rückten und sie zum einen als Erneuerer und Vorreiter eines amerikanischen Lebensstils, zum ande299ren als Teil der High Society darstellten, zeichneten sie ein distinktes Bild des indischen Subkontinents. »India« inszeniert die Herrscher als selbstbewusste Macht­haber, die unabhängig von den britischen Behörden agierten und zugleich diejenigen waren, die Indien zum Wohle der Bevölkerung modernisierten. Szenen über die Regierungspraxis und die militärische Stärke der Staaten führten diesen Zusammenhang auch konkret vor Augen. In Hyderabad präsentierte sich das Kabinett des Nizam der Kamera und demonstrierte eine kollegiale Zusammenarbeit (Szene 158). Anstatt hinter verschlossenen Türen im Verborgenen zu wirken, inszenierte es sich als modern und öffentlich zugänglich. Mit Akbar Hydari, dem Finanzminister von Hyderabad, beleuchteten die Aufnahmen außerdem einen einflussreichen Politiker, der auch maßgeblich an den Round Table Conferences beteiligt gewesen war.[82]

Szene 158 »India«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 82 Min., Imperial War Museum.

 

Die Familie Hydari lud die Thaws zudem zu einem Jagdausflug ein und sorgte dafür, dass John Boyle ein prächtiges Zeltlager filmen konnte, dessen Festtafel es dem Sprecher zufolge sogar mit dem Buckingham Palace aufnehmen konnte (Szene  159).

Szene 159 »India«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 82 Min., Imperial War Museum.

 

Damit verfolgte Akbar Hydari offenbar eine planvolle Öffentlichkeitsarbeit für Hyderabad, die sich an europäische und amerikanische Publika richtete. So traf er sich Ende der 1930er Jahre auch mit der bekannten englischen Reisebuchautorin Rosita Forbes und bot an, ihr Hyderabad zu zeigen. In ihrem Buch über die Fürstenstaaten beschreibt sie sein Angebot, von dem fast anzunehmen ist, dass er es wohl in ähnlicher Form auch den Thaws machte: »Sir Hydari, lunching with me […], invited me to stay in more imaginative buildings of marble, to study the premier state of India under his guidance and, by way of relaxation, to shoot unnumbered tigers in what, according to the map, appears to be unlimited open country.«[83]

Noch eindrücklicher stellten außergewöhnlich lange Szenen über die Armeen von Jaipur und Bikaner die Macht der Maharadschas zur Schau. In weiten Kameraeinstellungen auf das große Heer und mit langen Schwenks entlang der Soldatenreihen betonen die Aufnahmen die Größe der Armee (Szene 160). Die militärisch-fröhliche musikalische Untermalung verstärkt diesen Eindruck, während auch der Off-Sprecher ein scheinbar eindeutiges Kräfteverhältnis beschreibt: Ihm zufolge war und ist Großbritannien auf die Unterstützung der indischen Herrscher angewiesen, etwa wenn er sagt: »As we have seen Bikaner has one of the finest armies in the Indian states and should an aggressor threaten the country it would prove a valuable aid to the British in the defense of the Empire. His Highness was among the first to offer his services to the king at the outbreak of war in September 1939.«

Szene 160 »India«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 82 Min., Imperial War Museum.

 

300Die indischen Herrscher nutzten die Filme der Thaws also politisch zu staatlichen Repräsentationszwecken und persönlich mit Blick auf ihre Stellung in der High Society. Vor diesem Hintergrund ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen den Thaws und der britischen Regierung schließlich keine Überraschung: Im Januar 1941 schickte Larry drei Farb- sowie vier Schwarz-Weiß-Filme nach London. Zum Teil waren die Aufnahmen eigens für die Kurzfilme gedreht worden oder sie entstammten dem Material für »India«.[84] Nachdem das Imperial Institute eine erste interne Vorführung veranstaltet hatte, hielt ein Mitarbeiter des India Office ernüchtert in einer Aktennotiz an A. H. Joyce fest: »They [the films, J. H.] are very picturesque and technically excellent […]. But in my opinion they are of no use to us for publicity purposes as they stress the flamboyant autocratic side of the [Princely, J. H.] States which runs counter to our gospel.«[85]

Offenbar fiel die High Society-Perspektive beinahe nahtlos mit den Interessen der Maharadschas zusammen, die sich als modern, individualistisch bis exzentrisch und unabhängig in Szene setzten. Im Londoner India Office hatte man dagegen wohl erwartet, dass der Film vor allem die Industrie in Britisch-Indien zeigen und die bereits ins Wanken geratenen Strukturen des Empire in ein helleres Licht rücken würde. Stattdessen stellte das amerikanische Paar gerade diejenigen Aspekte in den Vordergrund, die auch die New Yorker Society Pages prägten. Die nahbare und personalisierte Darstellung der indischen Herrscher reproduzierte und verbreitete – bewusst oder unbewusst – deren Repräsentationsinszenierung und wirkte somit politisch.