1452.4. »Shopping madly all morning & afternoon«: Europa und Konsum

Larrys und Peggys Europareise im Sommer 1931 nahm bereits auf dem Transatlantikdampfer Emperess of Britain einen erfreulichen Anfang. Peggy hielt in ihrem Tagebuch fest: »She is the most beautiful boat I was ever on. Very modern in decoration but very comfortable. We have two huge cabins & 2 luxurious baths, what bliss.«[1] In Paris angekommen, ging die Reise vergnüglich weiter: »Shopping madly all morning & afternoon, dined Chico Khilvert [New Yorker Freundin, J. H.] […] at Ambassadeur’s. Hectic time went on to Florence [Nachtclub, J. H.], danced till about 4.«[2] Weniger Glück hatten die Thaws allerdings, als sie sich eine Woche später von England aus nach Skandinavien begaben. Ernüchtert hieß es nun: »it is a ›cabin ship‹ which means all 2nd class & decidedly depressing.«[3]

Die Tourismusforschung hat den Konsumaspekt des Reisens aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Gemein ist ihnen dabei, dass sie den touristischen Konsum nicht auf eine materielle Dimension beschränkt wissen wollen. Der Ethnologe Ueli Gyr geht davon aus, dass Tourist/inn/en mit Sehenswürdigkeiten, Essen oder Souvenirs Symbole konsumieren, die stellvertretend für Kultur und Gesellschaft des fremden Landes stehen.[4] Aus einem soziologischen Blickwinkel be146schreibt dagegen John Urry Konsum auf Reisen als Konsum von Erfahrungen und Erlebnissen, die Wunschvorstellungen und Träume bündeln. Dem materiellen Konsum vorgängig ist, wie bereits erwähnt, immer der Blick, der das Verhalten der Tourist/inn/en maßgeblich prägt und den Urry zur zentralen Analysekategorie erhebt.[5] Cord Pagenstecher, der Urrys tourist gaze für die deutschsprachige Geschichtswissenschaft fruchtbar gemacht hat, unterstreicht dann etwa im Zusammenhang mit Knipserfotos von Rastplätzen und Picknicks, die Tourist/inn/en eigneten sich über »alltägliche Abläufe […] die Fremde symbolisch an«.[6]

Konsum, so viel ist klar, ereignet sich »im Rahmen symbolisch vermittelter sozialer Prozesse als Zeichen bzw. Träger von Bedeutungen, die durch konsumspezifische und allgemeine Regeln, Sinnordnungen und Wertemuster bestimmt sind«[7] – das gilt allerdings nicht nur für den Urlaub. Wie die Beispiele aus Peggys Tagebuch zeigen, liegt es nahe, sich hier stärker der materiellen Seite des touristischen Konsums zuzuwenden, immerhin hing das Reiseerlebnis sehr deutlich mit dem konkreten Kauf, Verzehr oder Gebrauch von Waren und Dienstleistungen zusammen. Zugleich handelte es sich dabei nicht um außeralltägliche touristische Fantasien, den Thaws ging es vielmehr auch darum, den New Yorker Lebensstandard beizubehalten.

Im Vordergrund der Europafilme stehen aber nicht einfach die Befriedigung von Bedürfnissen, sondern die spezifische Körperlichkeit des Konsumierens und die entsprechenden Praktiken. Wie man ein Glas Wein trank, ein neues Kleidungsstück präsentierte oder mit dem Auto durch Europa fuhr, waren keine alternativlosen Handlungsabläufe, die nur auf eine einzige Art und Weise durchgeführt werden konnten, sie hingen stets vom Know-how der Akteure ab.[8] Hier wird wie unter einer Lupe sichtbar, wie die Thaws ihren High Society-Status aktualisierten, wie sie Geschlechterrollen aushandelten, ihre Körper in Szene setzten und ethnische, Klassen- und Alterszugehörigkeiten herstellten.[9] Dabei lässt sich dieses Verhalten nicht 147auf die bloße Demonstration von Status im Sinne von Thorstein Veblens vielzitierter »conspicuous consumption« reduzieren. »The meanings of consumption«, so hält T. J. Jackson Lears stattdessen fest, »were multiple, idiosyncratic, and personal«[10] und entfalteten als performative Akte ein transformatives Potenzial, das sich auf unterschiedliche Lebensbereiche auswirkte.

Die Konsumpraktiken in den Filmen können anhand von drei Themenkomplexen untersucht werden, die deren Handlung und Visualität entscheidend prägten: Mobilität und Stillstand, Essen und schließlich Mode. Dabei gibt es zahlreiche Überschneidungen. Ort, Ware und Dienstleistung hingen oftmals eng zusammen – man aß auf dem Schiff, präsentierte die neu erworbene Kleidung im Hotel oder fuhr mit dem Auto ins Restaurant. Diese Punkte beeinflussten nicht nur das Europabild der Filme wesentlich, mit Blick auf die anderen Aufenthaltsorte in Palm Beach, Afrika und Indien lässt sich auch zeigen, dass sie dort in ganz anderen Kontexten visualisiert und mit neuen Bedeutungen aufgeladen wurden. Zudem unterscheiden sich die Amateurfilme und die professionellen Travelogues in einem entscheidenden Punkt. In Europa (und Palm Beach) gaben die Thaws ›nur‹ Geld aus, während sie später zur Finanzierung der Reisen Aktiengesellschaften gründeten und auf Einnahmen durch die Filme abzielten.

Mobilität und Stillstand

In den Europafilmen der Thaws spielte das Reisen im Sinne des Sichfortbewegens eine ebenso wichtige Rolle wie die Reiseziele und die Momente des Innehaltens. Für eben jenes Spannungsverhältnis von Mobilität und Stillstand interessiert sich die recht junge Disziplin der u. a. von Mimi Sheller vorangetriebenen mobilities research und fragt nach den Zusammenhängen zwischen Körpern in Bewegung, Raumkonzepten, der Materialität von Transportmitteln und sozialer Mobilität. Dabei geht es immer auch um gesellschaftliche Machtverhältnisse und den Zwang bzw. Zugang zu Mobilität.[11] Im Folgenden sollen daher die filmischen Repräsentationen von Schiff, Automobil und Flugzeug einerseits und Hotels andererseits beleuchtet werden. Welches Bild von Europa kreierten die Thaws auf diese Weise in ihren Filmen und wie verhielt sich dieses zu den USA? Denn, so halten Alexander C. T. Gep­pert, Uffa Jensen und Jörn Weinhold fest: »Räume strukturieren Kommunikation, werden aber selbst erst kommunikativ geschaffen.«[12]

Bereits um nach Europa zu kommen, mussten Larry und Peggy für die Atlantiküberquerung eine Dienstleistung in Anspruch nehmen. Von New York aus dauerte 148die Fahrt in den 1920er und 1930er Jahren rund eine Woche. Die Thaws reisten meist bis Southampton, Plymouth oder Le Havre und zahlten für ein Erste-Klasse-Ticket auf der Aquitania, der Île de France oder der Bremen rund 270 Dollar (heute ca. 3800 Dollar).[13] An Gepäck war auf den Schiffen ein halber Kubikmeter pro Passagier erlaubt, was darüber hinausging, kostete extra.[14] Alleine die verschiedenen Pelzmäntel, die Peggy in den Europafilmen trägt, dürften diese Beschränkung zusammen mit dem Kameraequipment jedoch überschritten haben.

Die Filme zeigen die Schiffsreisen in außergewöhnlich langen zusammenhängenden Sequenzen, etwa in »A Motor Honeymoon« die Hinfahrt auf der Aquitania mit sechs Minuten und die Rückfahrt auf der Berengaria mit fast fünf Minuten.[15] Die Atlantiküberquerungen stellten für die Thaws längst keine lästige Notwendigkeit mehr dar, sondern waren ein entscheidender Teil der Reise. Zugleich verweist dieser Umstand auf die Materialität des Filmens, war es doch auf einem Schiff recht unkompliziert möglich, die Kamera zu holen und wieder in der Kabine zu verstauen. Auch die Bewegung der Dampfer konnte problemlos während der Fahrt visualisiert werden, indem Larry einfach die vorbeiziehende Umgebung filmte.[16] Die Überfahrten lassen sich als »Transit« begreifen, der nicht nur zwei Kontinente miteinander verband, sondern als distinkte Phase eigenen zeitlichen und räumlichen Gesetzmäßigkeiten folgte. Dabei wirken die »Bedingungen des Transits […] auf die Verbindung zurück und prägen deren vermittelnde Qualität.«[17] Indem die Thaws die Atlantiküberquerungen so ausführlich in ihren Filmen thematisierten, hoben sie die Passagen selbst als besondere Phase der Europareisen hervor, wobei der Konsum­aspekt eine wesentliche Rolle spielte.

Vor allem die Aquitania, die Berengaria und die Mauretania der Cunard Line – mit denen auch Larry und Peggy mehrfach fuhren – galten unter Zeitgenoss/inn/en als besonders attraktive Schiffe.[18] So zielten auch die Filme darauf ab, die Größe, den Luxus oder die Neuheit des jeweiligen Dampfers zu betonen. In »The Second Honeymoon« lässt eine Texttafel wissen, dass es auf der brandneuen Île de France zurück nach Amerika ging, während »A Motor Honeymoon« 149mehrere Einstellungen des Erste-Klasse-Decks der Aquitania zeigt und informiert: »The enormous sweep of the promenade deck. Three laps equals one mile« (Szene 34) Dabei eröffnete die Kamera auch einen exklusiven Zugang zum Steuermann auf der Schiffsbrücke sowie zum Skipper. Letzteren leitete Peggy 1924 für die Filmaufnahme in gewohnter Manier dazu an, durch ein Fernglas zu blicken und in die Ferne zu deuten.

Szene 34 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Darüber hinaus sind die Schiffe meist auch von außen in langen Schwenks zu sehen, die den Eindruck erzeugen, sie passten aufgrund ihrer enormen Größe gar nicht ins Bild (Szene 35). Die Räume unter Deck aufzunehmen, war dagegen wegen der schlechten Lichtverhältnisse nicht möglich.

Szene 35 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Das Leben während der Überfahrt unterschied sich kaum vom New Yorker Dasein. Larry und Peggy trafen Freund/inn/e/n, aßen und tranken in schicken Restaurants (beispielsweise betrieb das Ritz Carlton Ableger auf den Schiffen der Hapag) oder spielten Tennis.[19] Auf den bevorstehenden Alkoholkonsum der Thaws und ihrer Mitreisenden, das »serious drinking« der »elbow benders«, weisen in »The Second Honeymoon« gleich zwei Texttafeln scherzhaft hin,[20] während eine Menükarte vom 9. Mai 1924 Aufschluss über das siebengängige Abendessen für »Mr. & Mrs. L. C. Thaw and Party« gibt (u. a. Kaviar, junger Truthahn und glasiertes Lamm 150in Madeirasauce).[21] Dabei erforderte der Aufenthalt auf dem Schiff eine angemessene Garderobe bzw. bot er die Gelegenheit, diese zu präsentieren. In den Filmaufnahmen sind zahlreiche Pelze, Ketten und teure Kleider zu sehen – und das vor allem am stark medialisierten Abreisetag. Die Filme zeigten die Schiffsreisen also als eine Reihe von Konsumakten oder verwiesen auf vorangegangene Kaufentscheidungen. Diese für den Film aufzuführen bedeutete auch, sich das Schiff über ein ganz selbstverständliches Wissen und Können anzueignen und auch demonstrativ mit dem ranghohen Schiffspersonal aufzutreten. Am häufigsten nahm Larry seine Frau und Freund/inn/e/n während der Überfahrten aber auf, wenn sie in Liegestühlen auf dem Sonnendeck ausgestreckt lagen, lasen und sich unterhielten (Abb. 23). Die Liegen kosteten extra und mussten reserviert werden, wie die Europareiseführer nicht müde wurden, ihren Leser/inne/n einzuschärfen.[22]

 

Abb. 23 Peggy und New Yorker Freund/inn/e/n in Liegestühlen auf den Erste-Klasse-Decks der Translatlantikdampfer, aus: »A Motor Honeymoon«, 1924; »The Second Honeymoon«, 1927, »A Journey Through Bavaria«, 1930, und »The Whole Damn Family in Europe«, 1932, Privatbesitz und Imperial War Museum. 

 

In ihren Filmen konstituierten Larry und Peggy diese Form des Reisens als Produkt und Dienstleistung, bei denen körperliche Entspannung im Vordergrund stand. Die Szenen der Atlantiküberquerungen rahmten die Europaaufenthalte einerseits ein und kennzeichneten sie als abgegrenzte Phasen. Im Transit verknüpften sie andererseits über die Konsumpraktiken aber auch das New Yorker Leben mit demjenigen in Europa und trugen so dazu bei, die ›Alte‹ und die ›Neue Welt‹ gerade nicht nur räumlich zu verbinden.

In Europa mobil zu sein, erforderte dagegen ein anderes Transportmittel und eine ganz bestimmte Dienstleistung: ein Auto samt Chauffeur. Larry und Peggy nahmen jedes Mal ihr eigenes Auto und ihren Fahrer aus New York mit, 1924 und 1927 etwa einen Rolls Royce (vermutlich einen Silver Ghost und einen Phantom I), 1932 eine Cord-Limousine.[23] Namentlich erwähnten sie nur Kite, den Fahrer auf ihrer Hochzeitsreise; in den folgenden Filmen ist, wenn überhaupt, vom »chauffeur« die Rede. Insgesamt spielten die Autos der Thaws in den Europafilmen eine prominente Rolle. Neben Peggy sind sie die am häufigsten wiederkehrenden Motive – in »A Motor Honeymoon« mit 25 Einstellungen, in »The Second Honeymoon« mit elf, in »A Journey Through Bavaria« mit acht und in »The Whole Damn Family in Europe« mit zehn. Nun standen aber nicht mehr wie auf dem Schiff die Körperpraktiken von Peggy und ihren Freund/inn/en im Vordergrund, sondern die Arbeit der Chauffeure.

 

Wer das eigene Auto nach Europa bringen wollte, konnte es in einer Holzkiste auf die Transatlantikdampfer verladen lassen und zahlte 1924 für eine Limousine ungefähr 100 Dollar (heute ca. 1.400 Dollar).[24] Wer mit dem Auto fuhr, war vor allem auf gute Straßen angewiesen. In Frankreich wurde das asphaltierte Straßensystem bereits in den 1910er Jahren ausgebaut; die Moyenne Corniche, eine Panoramaküsten151straße entlang der Riviera, entstand in den frühen 1920er Jahren und im September 1924 eröffnete die dreispurige Autostrada, die von Mailand zu den oberitalienischen Seen führte.[25] In den Schweizer Alpen existierten die Straßen über den Simplon-, den St. Gotthard- oder den Furkapass sogar schon im 19. Jahrhundert.[26] Harvey Levenstein konstatiert, dass es in den ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts unter reichen Amerikaner/inne/n immer beliebter geworden sei, das eigene Auto in die ›Alte Welt‹ mitzubringen.[27] Die Reiseführer aus den 1920er Jahren informieren auch meist über die Einfuhrbestimmungen für Autos, enthalten aber keine praktischen Informationen zu Routen oder darüber, wo man Benzin kaufen konnte. Mit der Eisenbahn zu fahren, so scheint es, war bis in die 1930er Jahre immer noch die weitaus verbreitetere Art der Fortbewegung für Europatourist/inn/en. In einer Zeit, in der sich in den USA allerdings niemand mehr für Fords Model T interessierte, sondern Käufer/innen aus einer großen Bandbreite modischer und dennoch erschwinglicher Autos wählen konnten, brachte es immerhin einen Distinktionsgewinn, das eigene Fahrzeug auf einen anderen Kontinent zu verschiffen.[28] Dementsprechend ausführlich thematisiert »A Motor Honeymoon« auch das Verladen des Autos in sechs unterschiedlichen Einstellungen. Die hektische Kameraführung und die schnellen Schwenks wirken, als wollte Larry jede einzelne Bewegung dieses Vorgangs erfassen (Szene 36).[29]

Szene 36 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Das eigene Auto ermöglichte Larry und Peggy in Europa eine individuelle und unabhängige Form der Mobilität. Sie mussten sich weder nach Zugplänen richten noch die Gesellschaft anderer Reisender in Kauf nehmen, womit sie sich deutlich von der Mehrzahl der amerikanischen Tourist/inn/en absetzten. Auch die Aussicht aus dem fahrenden Auto genossen die Thaws sichtlich. Die Filme weisen mehrfach auf die Naturschönheiten der zurückgelegten Routen hin, wobei sie betonen, dass sich das Paar in Bewegung befand: »The trip down the Rhine Valley towards Switzerland was a beautiful ride, with the Vosges Mountains on the right and the Black 152Forests [!] of Germany on the left.«[30] In ähnlichen Worten berichtete Peggy zudem über die Fahrten in ihrem Tagebuch: »Enroute to Innsbruck then Italian & Austrian Tyrol. Dolomites beautiful.«[31] Dieser nun tatsächlich rein visuelle Konsum der vorbeiziehenden Landschaft hing maßgeblich von der Materialität des Fahrzeugs – einem bequemen Luxusauto – und der Dienstleistung des Chauffeurs ab, dessen Anwesenheit es den Thaws erst gestattete, entspannt aus dem Fenster zu schauen.

Die Bewegung des Autos wiederum im Film sichtbar zu machen, erwies sich als schwieriger, konnte Larry hier doch nicht einfach wie vom Schiff aus filmen. Dennoch scheute er keine Mühen und behalf sich mit aufwendigen Alternativen. Entweder nahm Larry das fahrende Gefährt auf, wozu er aussteigen, sich ein Stück weit entfernen und schließlich dem Auto nachlaufen musste oder das Auto wendete mehrfach, um zurückzufahren (Szene 37).

Szene 37 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Bewegte sich die Fahrgemeinschaft dagegen in die Höhe, wie auf einen der zahlreichen Schweizer Alpenpässe, hatte Larry die Gelegenheit, die Autofahrt durch die Höhenunterschiede zu visualisieren. Als die Thaws und ihr Chauffeur beispielsweise den Simplonpass erklommen, dokumentierte Larry in vier unterschiedlichen Einstellungen von Brig im Tal bis zum Gipfel den Anstieg. Jeweils ein Kommentar erläutert eine Einstellung, sodass die stufenweise Fortbewegung im Film durch die Unterbrechungen der Texttafeln umso deutlicher hervortritt: »The start of the climb. Brigue in the background« – »Going up« – »The summit« – »The top! 13000 feet above Brigue, that we had ascended in fifteen miles« (Szene 38).

Szene 38 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Beide Varianten, die Bewegung des Autos darzustellen, waren für die Thaws und ihre Chauffeure mit einem enormen Aufwand verbunden. Immerhin musste die Fahrt mehrfach unterbrochen, die Kamera ausgepackt und aufgebaut werden, um dann erst mit der Aufnahme zu beginnen, die möglicherweise nicht immer beim ersten Versuch gelang. Das ist umso bemerkenswerter, weil etwa die Pausen an den Grenzstationen eine sehr gute Gelegenheit geboten hätten, das Auto zu filmen. Stattdessen illustrieren die Zitate und Ausschnitte, wie die Mobilität mit dem Auto das Europabild der Thaws prägte:[32] Der Kontinent erscheint hier ebenso als zusammenhängende Region, die nicht durch Landesgrenzen getrennt, sondern gerade durch die kontinuierliche Bewegung verbunden war. [33]

153Larry war den Luxus eines eigenen Autos schon aus Kindertagen gewohnt, und er übernahm während des Ersten Weltkriegs nicht zufällig die prestigeträchtige Aufgabe eines Krankenwagenfahrers. Peggy dienten die Autos in New York seit ihrer Hochzeit in der High Society zudem als Accessoires, die genauso wie die neueste Mode ihre Stellung als Trendsetterin begründeten. Ein Artikel von 1928 nahm nicht nur die Farben des aktuellen Rolls Royce und von Peggys Kleidung gemeinsam in den Blick, sondern beobachtete auch, wie sich die Bewegung des Einsteigens auf den Sitz der Kleidung am Körper auswirkte: »Mrs. Lawrence Copley Thaw is pictured […] in a three-piece ensemble which emphasizes the vogue for simply tailored light toned suits. As she steps into her maroon-colored Rolls Royce we see that the coat follows the straight line silhouette«.[34]

Der Film zur Hochzeitsreise illustriert die besondere Stellung des Autos am besten. Hier ist das Fahrzeug nicht nur titelgebend, sondern mit dem ritualisierten Eintritt in die Ehe verknüpft. Den Zusammenhang zwischen romantischer Liebesbeziehung und materiellem Konsumgut machen bereits die ersten Bildtafeln des Vorspanns deutlich, auf denen ein Paar auf der Rückbank eines – gut erkennbaren – Rolls Royce auf einen Mond zu bzw. vor einer riesigen Mondsilhouette entlang fährt. Darauf folgt schließlich das Bild eines Tachometers (Abb. 24).

Abb. 24 Bildtafeln aus dem Vorspann von »A Motor Honeymoon«, 1924, Privatbesitz.

 

Das Auto diente hier nicht einfach der Fortbewegung, sondern bot einen geschützten und privaten Raum für das junge Paar.[35] Zeitgenössisch war dieses Narrativ weitverbreitet. Das frisch verheiratete Ehepaar Hutson aus Tennessee etwa unternahm 1925 »A Honeymoon via a Motor Camping Tour« und berichtete im Motor Camper & Tourist-Magazin ausführlich darüber.[36] Im Gegensatz zu Larry und Peggy waren die Hutsons allerdings mit einem Ford Sedan und einem Zelt unterwegs. Bei den Thaws schloss die emotionale Beziehung zudem auch die Autos selbst mit ein, die Teil der Reisegemeinschaft waren. Im ersten Film kommentiert beispielsweise eine Texttafel eine Aufnahme von Peggy und dem Chauffeur im Rolls 154Royce mit: »Three parts of the quartette, the car, Peggy and Kite« (Szene 39).[37]

Szene 39 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Die folgenden Filme gingen noch einen Schritt weiter; in ihnen werden die Fahrzeuge vermenschlicht, indem sie Frauennamen erhalten und als Subjekte in den Texten auftreten. Geradezu liebevoll heißt es etwa in »The Second Honeymoon«: »Letty rests her little self in front of the Ritz after covering some 3200 miles«.[38] Und in »A Journey Through Bavaria« ist »Cordelia […] very tired and muddy from mountain climbing«.[39] In diesem Zusammenhang formuliert Mimi Sheller treffend: »[V]iewing cars as prosthetic extensions of drivers’ bodies and fantasy is the standard fare […]. Whether phallic or feminized, the car materializes personality and takes part in the ego-formation of the owner or driver«.[40]

Umso größer ist daher der Kontrast zur Darstellungsweise der Chauffeure. Für die Thaws war es nicht nur angenehmer, auf den langen Touren nicht selbst am Steuer sitzen zu müssen; Autofahrten waren in den 1920er und 1930er Jahren auch noch eine recht abenteuerliche Unternehmung. Die Fahrzeuge blieben oftmals liegen, und vor allem die Reifen platzten regelmäßig und mussten gewechselt werden.[41] Diese Tätigkeiten fielen ebenfalls in den Aufgabenbereich der mechanisch versierten Chauffeure. Wie Simone Derix in ihrer Studie zu den Thyssens gezeigt hat, sind Mobilität und soziale Asymmetrien eng miteinander verbunden, etwa wenn die Reisen der Herrschaft auch die Angestellten zu Mobilität zwangen bzw. sie an einen Ort banden.[42]

Die grundsätzlich hierarchische Beziehung zwischen Herrschaft und Bediensteten kann sehr komplex und ambivalent sein. Es ist zwar nicht bekannt, wie viel die Chauffeure der Thaws verdienten, wie sie auf den Reisen untergebracht und versorgt wurden oder wie viel Freizeit sie hatten.[43] Klar ist allerdings, dass Larry und Peggy von den Fähigkeiten ihrer Fahrer abhängig waren.[44] Außerdem verbrachte das Paar mit den Chauffeuren sehr viel Zeit auf engstem Raum, sodass möglicherweise eine 155emotionale Bindung entstand.[45] Schließlich ist es nicht auszuschließen, dass Kite und seine Nachfolger die Fahrten durch Berglandschaften und entlang der Côte d’Azur ebenso genossen wie ihre Arbeitgeber auf der Rückbank.

Die Filmausschnitte, in denen die Chauffeure gezeigt werden, zeichnen jedoch ein recht einseitiges Bild: Larry filmte die Fahrer in erster Linie bei der Arbeit. Dabei ging es nicht wie sonst um eine gelingende Interaktion, sondern um Tätigkeiten wie Reifenwechseln, Dampfablassen oder Gepäckabladen. Meist richtete sich der Blick der Kamera in einer halbnahen oder nahen Einstellung aus einer leichten Aufsicht auf die hockenden Bediensteten hinunter (Szenen 40, 41).

Szene 40 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Szene 41 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Aus dieser Perspektive stellten sich Autopannen auch weniger als lästige Unterbrechungen dar, im Vordergrund standen vielmehr die geschickten Reparaturarbeiten der Chauffeure. Auffällig ist darüber hinaus, dass diese nur äußerst selten in die Kamera blickten und auch Peggy die Angestellten in gemeinsamen Szenen stets ignorierte. Tatsächlich galt es doch als gute Eigenschaft des Dienstpersonals, weitestgehend unsichtbar zu agieren.[46] Im Fokus der Kamera zu stehen, scheint die Chauffeure teilweise sogar in eine unangenehme Situation gebracht zu haben, in der sie nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten (vgl. v. a. Szene 39).

Die Filme konzentrierten sich auf die Praktiken, welche die Autos funktionsfähig und in Bewegung hielten. Dabei mussten Larry und Peggy nicht beweisen, dass sie diese spezifischen Fähigkeiten beherrschten, sondern nur demonstrieren, dass sie die entsprechende Arbeitskraft verfügbar machen konnten. Auf diese Weise konstituierte der Blick der Kamera ein Machtgefälle zwischen den Thaws und ihren Angestellten, die hier weniger als Personen, sondern vielmehr als Dienstleistung gezeigt wurden. Indem sich die Chauffeure wiederum diesem Blickregime unterwarfen, bestätigten sie diesen Status.

Die Krönung der zeitgenössischen Transportmittel war schließlich das Flugzeug. Es ermöglichte eine noch exklusivere, schnellere und unabhängigere Art des Reisens und stand geradezu paradigmatisch für technischen Fortschritt und Moderne.[47] Um 1924 den letzten Teil ihrer Hochzeitsreise in England zu beginnen, flogen Larry und Peggy mit einem kleinen Personenflugzeug der britischen Firma Handley Page von Paris nach London. Der erste Londoner Flughafen eröffnete 1920 im Vorort Croydon;[48] dies dürfte auch der Zielflughafen der Thaws gewesen sein. Flugzeuge waren zu diesem Zeitpunkt außergewöhnliche Fortbewegungsmittel und für Zivilpersonen nur für Kurzstrecken zugelassen. Offensichtlich teilten Larry und Peggy 156die zeitgenössische Begeisterung für das Fliegen, in ihrem Besitz befand sich nämlich ein 16-Millimeter-Film über Charles Lindberghs Atlantiküberquerung von 1927. 1924 dokumentierte Larry die Besonderheit des Transportmittels somit auch in einer dreißig ­Sekunden langen Szene (Szene 42).

Szene 42 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Noch stärker als das Auto oder die Eisenbahn veränderte das Flugzeug in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts »das menschliche Raumgefühl«, indem es weit entfernte Orte miteinander verband.[49] Im Film treten in dieser Szene Landesgrenzen umso mehr in den Hintergrund – man bewegte sich einfach bequem von einer Metropole in die andere. Bezeichnenderweise informiert der Film aber nicht nur dar­über, dass Larry und Peggy nach London flogen, sondern auch, wer nicht mit an Bord durfte: Der Chauffeur Kite musste den Rolls Royce nach England überführen.

Stillstand auf Reisen in Form längerer Aufenthalte visualisierten die Filme über Darstellungen von Grandhotels. Kürzere Mittagspausen fanden in Gasthäusern statt, die auf der Strecke lagen. Hier stand allerdings der Vorgang des Essens und Trinkens im Vordergrund, sodass diese Szenen im Folgenden gesondert betrachtet werden sollen. In Europa stiegen die Thaws, wie bereits erwähnt, regelmäßig bei den besten Adressen ab. Im Ritz in Paris, im Grand Hôtel des Trois Rois in Basel oder im Grand Hôtel des Bains auf dem Lido erwarteten Larry und Peggy luxuriöse Zimmer, exquisites Essen und ein zuvorkommender Service. Hier traf das Paar außerdem in einem Rahmen auf seinesgleichen, der »Interaktionen unter Fremden [ermöglichte], die einander nicht über ihre Herkunft, sondern über ihr Profil und Verhalten einschätzen konnten.«[50] Anstatt aber all diese Annehmlichkeiten zu filmen, zeigen die Aufnahmen beinahe ausschließlich die Fassaden der Grandhotels.[51] Die Gebäude sind meist von links aus einer leichten Untersicht und in einer Totalen zu sehen, weshalb sie das gesamte Bild ausfüllen und umso prunkvoller wirken (Abb. 25).

 
 

Abb. 25 Grandhotel-Fassaden, aus: »A Motor Honeymoon«, 1924; »The Second Honeymoon«, 1927, »A Journey Through Bavaria«, 1930 und »The Whole Damn Family in Europe«, 1932, Privatbesitz und Imperial War Museum.

 

Für diese Darstellungsweise gibt es mehrere Gründe: Aufgrund der schlechten Lichtverhältnisse war es sicherlich oftmals schwierig, das Innere der Hotels zu filmen. Das dürfte aber auch kaum notwendig gewesen sein. Das Publikum der Thaws hatte in New York reichlich Grandhotel-Erfahrung und kannte die meisten europäi­schen Hotels vermutlich selbst von innen. Zudem glichen die europäischen Häuser durch die Professionalisierung der Tourismusindustrie um die Jahrhundertwende ihre Standards einander immer stärker an. Zum einen erwies sich das »Schweizer Modell« – vorangetrieben von der Lausanner Hotelschule – als führend.[52] Zum anderen betrieben zunehmend große Konsortien mehrere Grandhotels in Europa und 157Nordafrika.[53] Somit standen die Bilder der Fassaden als Signifikanten für einen Lebens- und Reisestil, welche die Betrachter/innen der Filme problemlos mit Bedeutung füllen konnten.

Außergewöhnlicher als die Räume war stattdessen die Aussicht aus den jeweiligen Hotelzimmerfenstern, wie beispielsweise auf den Lido, Straßburg und St. Moritz (Abb. 26).

Abb. 26 Der Blick aus dem Hotelfenster auf den Lido (»A Motor Honeymoon«, 1924), auf Straßburg und auf St. Moritz (»A Journey Through Bavaria«, 1930), Privatbesitz und Imperial War Museum.

 

Texte wie »The view from our hotel window« erinnerten stets daran, von welchem Standort aus die Aufnahmen entstanden waren. Erst das Hotel und das spezifische Zimmer lenkten den Blick auf eine spezielle Weise und ermöglichten das ästhetische Landschaftserlebnis. In diesem Kontext wird abermals deutlich, wie eng visueller bzw. symbolischer (z. B. die Alpensilhouette stellvertretend für die Schweiz) und materieller Konsum zusammenhängen.

 

Darüber hinaus drehte Larry allerdings auch zu den Hotels gehörige Park- und Strandanlagen in langen Kameraschwenks wie in Venedig oder Como. Hier stimmte nicht nur das Licht, es handelte sich vor allem um Settings, welche die New Yorker 158Hotels nicht bieten konnten. Das Hotel Excelsior auf dem Lido verfügte über einen eigenen Strand mit Kabinen und Liegestühlen. 1927 zeigten sich hier Larry, Peggy und ihre Freundin Helen Bronson, die zu Besuch von Brioni gekommen war, beim Rauchen, beim Strandspaziergang und vor allem beim Ausruhen in den Liegestühlen. Larry reichte für eine Einstellung sogar die Kamera an Peggy weiter, um sich selbst in einer Liege zu präsentieren (Szene 43).

Szene 43 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Das Hôtel Villa d’Este in Como beeindruckte durch eine Parkanlage mit Pavillons, Treppenaufgängen und Rondellen. Man konnte im Comer See schwimmen, sich zum Sonnen auf ein Boot legen oder auf den hoteleigenen Anlagen Tennis spielen (Szene 44). Auch an bequemen Liegestühlen mangelte es nicht. Die Thaws verbrachten 1930 fünf Tage mit Peggys Eltern in der Villa d’Este, wobei Peggy in den beiden letzten Einstellungen mit ihren Eltern nur angeschnitten am linken Bildrand zu sehen ist. Zu diesem Zeitpunkt legte sie bereits keinen großen Wert mehr auf die Filmauftritte, und Larry richtete sich in dieser Situation offenbar danach.

Szene 44 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Vergleicht man die Hotelszenen mit denjenigen auf dem Schiff, wird deutlich, dass die Europafilme Stillstand mit körperlicher Entspannung gleichsetzten. Dafür bedurfte es bestimmter Waren und Dienstleistungen, die es auf die richtige Art und Weise zu benutzen galt. Der Liegestuhl steht hier geradezu paradigmatisch für die Verknüpfung von Konsum mit den entsprechenden Körperpraktiken.

Essen und Trinken

Nahrungsmittel und die Praktiken des Zubereitens, Servierens und Verzehrens sind als Forschungsthemen inzwischen fester Bestandteil der Geistes- und Kulturwissenschaften.[54] Auch die spezielle Perspektive auf Essen im Film erfreut sich in neueren 159Arbeiten großer Beliebtheit.[55] Essen wird dabei gemeinhin als Arena begriffen, in der Identitäten ausgehandelt werden. Wer wann was mit wem isst – oder nicht –, gibt Aufschluss über die performative Konstruktion und enge Verzahnung von Körperbildern, ethnischen und nationalen Zugehörigkeiten, Geschlechterrollen und Klassenvorstellungen.[56] In diesem Kontext hebt Maren Möhring die Verbindung von Konsumgeschichte und Food Studies hervor und betont: »Als Akt der Aneignung kann das Konsumieren – und insbesondere das Essen als Aufnahme von etwas Materiellem in den eigenen Körper – personale und soziale Identitäten affirmieren, aber ebenso auch in Frage stellen.«[57] Bei den filmischen Repräsentationen von Essen gilt es nun, spezifische Darstellungsweisen zu identifizieren und zu analysieren. Während etwa die Nahaufnahme eines Produkts oder Gerichts dessen Materialität und Textur in den Vordergrund rückt, zeigen halbnahe Einstellungen oft den Tisch, Zubereitungs- oder Verzehrinstrumente und das essende Gesicht. Halbtotalen offenbaren schließlich das größere Setting und die Interaktionen der Akteure.[58] Diese Aufnahmemodi etablierten sich nicht erst mit dem Aufkommen der sogenannten food films in den 1990er Jahren, sondern finden sich bereits in Filmen der 1920er Jahre. Gerade die Hollywoodfilme der Precode Era stellen hier wichtige Quellen dar, regulierte der Production Code ab 1934 doch nicht nur die Darstellung von Alkohol, sondern führte – auch ohne dies explizit festzulegen – dazu, den Verzehr von Nahrungsmitteln insgesamt aus dem Bereich des Zeigbaren zu verdrängen.[59]

In den Europafilmen der Thaws spielte die Visualisierung von Essen eine wichtige Rolle. Bereits zu Beginn der Aufnahmen für »A Motor Honeymoon« inspirierte Essen das Paar zu einer komischen Einlage, die an entsprechende Szenen aus späteren Charlie Chaplin-Filmen erinnert. Hier sitzt Peggy an einem Tisch und stopft sich mit grotesker Geschwindigkeit Würstchen in den Mund. Eine Texttafel kommentiert: »Honeymoons don’t spoil appetites« (Szene 45).

Szene 45 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

160Die Szene macht das Potenzial von Essen im Amateurfilm sichtbar, kleine Handlungsabläufe zu gestalten. Der humorvolle Umgang mit Nahrungsmitteln beschränkt sich jedoch auf diesen Ausschnitt und ist wohl Larrys und Peggys großen Ambitionen für den ersten gemeinsamen Film geschuldet. Stattdessen thematisierte das Paar tägliche Mahlzeiten wie Mittagessen und Frühstück (abends dürfte es zu dunkel gewesen sein) und bestimmte Nahrungsmittel, nämlich Alkohol. Die unterschiedlichen Einstellungsgrößen, die Larry für diese drei Anlässe wählte, geben Aufschluss darüber, welche Bedeutung die Thaws dem jeweiligen Gericht oder Produkt zuschrieben.

Die Europafilme zeigen die Thaws überwiegend beim Mittagessen in Hotels oder kleinen Dorfgasthäusern. Die Szenen sind stets kurz und in halbtotalen oder halbnahen Einstellungen gedreht. Der Fokus liegt hier weniger auf den Gerichten, sondern auf dem größeren Setting von Gasthausterrasse und Tischen. Diese präsentieren sich schön gedeckt mit zahlreichen Tellern, Gläsern und Bestecken. Außerdem steht meist eine Flasche Wein prominent in der Tischmitte (Abb. 27).

 

Abb. 27 Larry und Peggy beim Mittagessen in Genf und Leuk, »A Motor Honeymoon«, 1924,
Peggy und Mrs. Stehli mit Kellner in Bayreuth, »A Journey Through Bavaria«, 1930, Peggy und
ihr Vater in Avignon, »The Whole Damn Family in Europe«, 1932, Privatbesitz und Imperial War Museum.

 

1924 übergab Larry, wie bereits erwähnt, zweimal dem Chauffeur Kite die Kamera, um sich gemeinsam mit Peggy am Tisch zu zeigen. Kite dagegen blieb vom Mittagessen ausgeschlossen. In »A Journey Through Bavaria« und »The Whole Damn Family in 161Europe« boten die Mittagessen zudem die Gelegenheit, Peggy mit ihren Eltern, den Stehlis oder anderen New Yorker Freund/inn/en zu zeigen. Schließlich konnte das Paar mit den Restaurant­besuchen demonstrieren, wie gut es sich bereits in der Fremde auskannte, beispielsweise wenn es informierte: »We lunch at Mittersill at the inevitable Post-Gasthof«.[60]

 

Interessanterweise kam auch Burton Holmes in seinen Frankreichfilmen aus den 1920er Jahren nicht ohne die Darstellung von Essen aus. Der Reisefilmer verfolgte jedoch eine ganz andere Visualisierungsstrategie. In »Seeing Paris. Part One. On the Boulevards« verkündet eine Texttafel: »Every restaurant has its specialty« (Szene  46). Im Au Caneton, das ein Mann und eine Frau betreten, handelte es sich um »caviar and pancakes«. Es folgen lange Nahaufnahmen des Gerichts, die zugleich die Körper des Kellners und der Gäste weitgehend ausblenden. Auf einem Servierwagen verteilt der Kellner die einzelnen Pfannkuchen auf Tellern und häuft, am Platz der Frau angekommen, Kaviar und saure Sahne darauf. Nun übernehmen die Hände der Kundin, die alles gekonnt mit einem Messer verstreichen und schließlich mit einem zweiten Pfannkuchen bedecken. Deutlich sichtbar werden dabei die Konsistenz der Speisen, die knusprige Oberfläche des Teigs und die Cremigkeit von Kaviar und Sahne. Abschließend nimmt die Kamera eine halbnahe Sicht auf das essende Paar und den Tisch ein. Im Mittelpunkt der Szene steht hier nicht einfach nur ein Nahrungsmittel, sondern die Folge von Handlungsschritten, die das Gericht dem Kellner und den Essenden auferlegte.[61] Um »caviar and pancakes« richtig zu servieren und zu verzehren, musste man, so suggerierte der Filmausschnitt, über ein spezifisches Wissen verfügen, das die Eingeweihten sozial von den Unwissenden trennte.

Szene 46 »Seeing Paris. Part I: On the Boulevards«, R: Burton Holmes, USA 1921, 12 Min., www.travelfilmarchive.com.

 

Dieses Gericht, die sogenannten Blini, stammte allerdings keineswegs aus Frankreich, sondern kam ebenso wie Kaviar ursprünglich aus Russland. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts assoziierten Europäer/innen und Amerikaner/innen die Fischeier mit der russischen Aristokratie. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand Kaviar aber wie Champagner und Austern bereits herkunftsunabhängig schlicht für Luxus und Reichtum. Dass die kommunistische Regierung den Kaviarhandel nach der Russischen Revolution unter ihre Kontrolle gebracht hatte, tat dem Image des Produkts dabei keinen Abbruch.[62] In der Szene verortet nun ein Baguette, das vor dem Teller der Frau auf dem Tisch liegt, das Gericht eindeutig in Frankreich.

Bereits im Gilded Age galt die französische Küche in der Upper Class als kulinarische Offenbarung. In New York fand man die haute cuisine z. B. im gediegenen 162Restaurant Delmonico’s, das auch Ward McAllister und die Four Hundred favorisierten, oder im Hoffman House, dessen Chefkoch aus dem Pariser Café Anglais stammte. In Paris selbst zählten Restaurantbesuche umso mehr zum distinktiven Pflichtprogramm der reichen Amerikaner/innen.[63] Die Mittelklasse-Tourist/inn/en vermieden die feinen Pariser Restaurants dagegen. Grund dafür waren Harvey Levenstein zufolge weniger die hohen Preise – bereits Ende des 19. Jahrhunderts stand der Dollar im Vergleich zum Franc sehr hoch –, sondern gerade die abschreckend komplizierten Rituale des Servierens und Verzehrens, die ein bestimmtes Verhalten erforderten. Zudem herrschte ein allgemeines Misstrauen gegenüber Saucen, die angeblich die schlechte Qualität des französischen Fleisches verbergen sollten.[64] Als Folge eröffneten in Frankreich American Bars und Steakhäuser, die den Skeptiker/inne/n ein sicheres Umfeld und vertraute Gerichte boten. Bis in die 1910er Jahre waren die Ressentiments jedoch verflogen und der Genuss der französischen Küche galt als wichtiger Bestandteil der Reiseerfahrung.[65]

Holmes knüpfte mit seiner Restaurantszene also einerseits an das Wissen breiter amerikanischer Publika über Essen in Frankreich an. Andererseits schilderte er einen außergewöhnlichen und sehenswerten Vorgang. Auf diese Weise trug er über Nahrungsmittel und den spezifischen Umgang mit ihnen zur Konstruktion einer französischen Nationalkultur bei. Larry und Peggy identifizierten in ihren Filmen dagegen weder nationale Küchen noch besondere Praktiken des Essens. Sie machten vielmehr regelmäßig eine Selbstverständlichkeit sichtbar, die keiner weiteren Erklärung bedurfte. Dies spricht dafür, dass sich die Produkte und die Formen des Verzehrens in New York kaum von dem unterschieden, was sie in europäischen Hotels und Restaurants aßen. Kaviar etwa gab es 1924 schon bei der Atlantiküberquerung als Vorspeise.

Beim Frühstück rückten dagegen das Essen und der Vorgang des Verspeisens stärker in den Fokus des Films, und die Kamera kam näher heran. So filmte Larry seine Frau 1924 im Hotel in Bern und 1927 in Venedig jeweils beim Frühstück im Bett. In Italien war zudem Peggys Freundin Helen Bronson mit dabei (Szene 47).

Szene 47 »The Second Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1927, 48 Min., Privatbesitz.

 

Wie bei der ersten Szene in »A Motor Honeymoon«, die Peggy im Morgenmantel am Tisch des New Yorker Apartments zeigt, gehörten hier zahlreiche Kännchen, Tassen, Gläser und Zuckerdosen zur ersten Mahlzeit des Tages dazu. Peggy bediente sich gekonnt und folgte dabei augenscheinlich einer bestimmten Reihenfolge. Auch in diesem Zusammenhang knüpften die Thaws in Europa an die Konsumstandards ihres amerikanischen Lebens an. Die Ausschnitte konzentrieren sich in nahen Einstellungen auf Peggys Oberkörper und Gesicht und wirken dadurch nicht nur intim. Sie machen zugleich die vielen Hand163griffe sichtbar, mit denen Peggy ein Glas an die Lippen hebt und es wieder absetzt, mehrere Kannen ergreift, sich daraus einschenkt und in ihrer Tasse rührt oder mit denen Helen ein Brötchen entzweibricht und mit Butter bestreicht.

Die Aufnahmen verbinden auf eine spezifische Weise Mahlzeit, Ort und Geschlecht. Das Frühstück fand im Schlafzimmer und dort am privatesten Ort schlechthin – im Bett – statt. Peggy trug noch ihr Nachthemd bzw. einen Morgenmantel und zeigte beim Verzehr Teile ihres nackten Körpers. Nicht nur dieser Rahmen und die Nähe der Einstellung entfalteten dabei eine authentisierende Wirkung. Der Vorgang des Essens selbst erweckte den Eindruck von Echtheit und Ungestelltheit, lassen sich doch die Bewegungen der Gesichtsmuskulatur beim Kauen und Schlucken kaum vollständig kontrollieren. Vinzenz Hediger spricht im Zusammenhang mit dem klassischen Hollywoodkino sogar davon, dass essende Schauspieler/innen den Publika einen »Intimitätsschock« zumuteten.[66] Die Kulturwissenschaftlerin Elspeth Probyn zielt darüber hinaus auf den Konnex von Körper, Essen und Sexualität ab. [67] Ob das Frühstück in den Filmen der Thaws visuell mit Sexualität verknüpft wird – etwa als erste Mahlzeit nach einer gemeinsamen Nacht oder als Praktik, die wie Sex Körpergrenzen überschreitet –, ist spekulativ. Hier stellt sich vielmehr die Frage, inwiefern die heutigen Seh- und Lesegewohnheiten, die Sex und Essen als sinnliche, vergnügliche oder ekelerregende körperliche Erfahrungen konstruieren, auch auf die 1920er Jahre angewendet werden können. Hediger jedenfalls sieht für die 1940er Jahre durchaus die Verbindung zwischen einer sexuellen und einer kulinarischen »Schaulust«, wobei letztere »aus der sexuellen hervorgehen und deren Statthalterin sein kann«.[68]

Während Larry zumindest in Venedig der befreundeten Helen die Kamera hätte übergeben können, um sich wie beim Mittagessen zusammen mit seiner Frau zu präsentieren, kam es offenbar nicht in Frage, dass er an dieser Konsumsituation teilnahm. Damit stellten die Filme das Frühstück im Bett als typisch weiblich dar und griffen, wie auch ein Titelblatt des Ladies’ Home Journal zeigt, zeitgenössisch verbreitete Vorstellungen auf (Abb. 28).[69] Was auf dem Cover nur unterschwellig mitschwingt, macht »A Motor Honeymoon« allerdings explizit: Diese Art des Konsumierens sexualisierte Frauen nicht nur, sondern stellte sie darüber hinaus als unproduktiv und verwöhnt dar. Die Szene spiegelt damit auch den vergeschlechtlichten Tagesablauf in der High Society wider, der das Leben der Thaws in New York bestimmte. Hier schlief Peggy regelmäßig lange und frühstückte spät. Larry war zu diesem Zeitpunkt bereits in der Arbeit und trat frühestens mittags in Erscheinung, wenn er sich mit Peggy zum Essen in einem Grandhotel traf.

Abb. 28 Titelseite des Ladies’ Home Journal, Januar 1927, Nr. 1.

 

164Mit Alkoholkonsum setzten sich die Thaws in ihren Filmen schließlich besonders explizit auseinander – sprachlich wie visuell. In »A Journey Through Bavaria. Wagner, Religion and Beer« ist das Rauschmittel sogar titelgebend. Darüber hinaus thematisierten Larry und Peggy das Getränk mehrfach in humorvollen Texttafeln wie: »Geneva. A little heavy elbow-bending at noontime« oder »the Mauretania about to start the serious drinking. Among the elbow-benders – David and Ruth Cowles, Kneeland and Kitty Green […] and those two famous prohibitionists Jack Clark and Walter Benton.«[70]

Diese bewusst witzige Ausdrucksweise konstruierte Alkoholkonsum trotz bzw. gerade wegen seines Verbots als sozial erwünschten Vorgang, der gruppenbildend wirkte und sichtlich Spaß machte. Zudem zielen die Texte mit dem »elbow-bending« auf die körperliche Dimension des Trinkens ab. Den Alkoholkonsum selbst filmte Larry meist auf eine ganz bestimmte Art und Weise: In Nah- und Großaufnahmen stellte er das Gesicht der Trinkenden und den Umgang mit dem Glas in den 165Mittelpunkt dieser Handlung. So beispielsweise 1924 nach der Frühstücksszene in Bern (Szene 48): Hier nimmt Peggy einen Schluck Rotwein, leckt sich mit der Zunge genießerisch über die Lippen, zieht an ihrer Zigarette und lächelt breit in die Kamera. Drei Punkte lassen sich in diesem Kontext festhalten: Erstens fand Alkoholkonsum nicht isoliert statt, sondern wurde mit weiteren Konsumpraktiken verknüpft. Neben der prominent in Szene gesetzten Zigarette betont die Nahaufnahme auch Peggys großen Pelzkragen, ihre Perlenkette und die Ringe an beiden Händen. Zweitens lenkt die Größe der Aufnahme die Aufmerksamkeit auf Peggys Mimik. Der Rotwein, so suggeriert die Szene, schmeckt köstlich und macht glücklich. Tatsächlich bestätigt auch die Texttafel: »1 P. M. Good humor completely restored.« Drittens fällt auf, dass Peggy während der ganzen Zeit ihr Glas nicht abstellt. Auf diese Weise bleibt es nicht nur im Bild, es wirkt geradezu wie ein Accessoire neben ihrem Gesicht.

Szene 48 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Ähnlich präsentierte Peggy auch in »A Journey Through Bavaria« ihr Bierglas in einem Gasthof beim Mittagessen (Szene 49).

Szene 49 »A Journey through Bavaria«, Margaret und Lawrence Thaw, 1930, 55 Min., Imperial War Museum.

 

Im Ritz – »Tea time at the Ritz. Very little tea is drunk« – konzentrierte sich Larry abermals auf die lachenden Gesichter von Peggy und drei amerikanischen Freundinnen beim Weintrinken (Szene  50).

Szene 50 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Mit diesen Texten und Bildern positionierten sich die Thaws als Prohibitionsgegner und zeigten sich zugleich als jung, smart und modern.[71] Damit vertraten sie eine Einstellung zu Alkohol, die auch populäre Lieder, Zeitungsartikel über das Nachtleben der High Society, Werbeanzeigen und nicht zuletzt Spielfilme kommunizierten.[72] Insbesondere in den 1930er Jahren erlebten romantische Komödien eine Hochphase, in denen reiche Paare die Cocktailkultur zelebrierten und dabei vergnügliche Ehen führten.[73] Die Filme der Thaws scheinen hier vorwegzunehmen, was beispielsweise »The Thin Man« mit Myrna Loy und William Powell – beide meistens angetrunken oder verkatert auf der Jagd nach einem Mörder – 1934 für ein großes Kinopublikum visualisierte. Für Larry und Peggy machte es zwar keinen Unterschied, ob sie in New York oder Europa waren, Alkohol wurde für die beiden nirgendwo knapp (man denke nur an die hauseigene Bar im New Yorker Apartment). Dennoch bot Europa in dieser Hinsicht einen ungewohnten Freiraum für die Thaws wie für die meisten anderen amerikanischen Tourist/inn/en. Dass »The Second Honeymoon« etwa darauf hinweist, der Alkoholkonsum auf dem Schiff werde gleich beginnen, ist typisch für die Prohibitionszeit. 166Sobald der Transatlantikdampfer internationale Gewässer erreicht hatte, öffneten die Bars – ein Moment, den viele Reisende sehnlich erwarteten.[74] So gliederte auch der Reisebuchautor Basil Woon seinen Parisführer unter anderem in Kapitel wie »A Cocktail at the Ritz«, »Have One on Me at Henry’s«, »What the Well-Dressed Young Man Is Drinking« oder »Then Just One Bottle of Wine at the N. Y. Bar« und erläuterte geradezu pathetisch: »This feeling of freedom is undoubtly the dominant ingredient in […] the charm of Paris.«[75]

Wie Peggy vor der laufenden Kamera Alkohol konsumierte, ist gerade deshalb besonders aussagekräftig, weil es sicherlich weder die naheliegendste noch die effizienteste Art war, etwas zu trinken. So ließ sich vielmehr das Getränk am besten in Szene setzen. Hier wird die Bedeutung von Körperlichkeit in der High Society besonders augenfällig: Peggy produzierte und bestätigte ihren hervorgehobenen sozialen Status beim und durch das Trinken. Dabei kam es zum einen darauf an, ein bestimmtes Lebensmittel in den eigenen Körper aufzunehmen. Zum anderen integrierte sie das notwendige Artefakt – ein Glas – gleichsam als Erweiterung ihres Körpers in den Prozess.[76] Der, zumindest für Frauen, richtige Umgang mit einem Glas findet sich auch in zeitgenössischen Spielfilmen. In »Our Dancing Daughters« (1928) trinkt sich Joan Crawford durch ganze Reihen von Champagnergläsern, wobei sie oder eine andere 167Figur stets ein Getränk neben ihrem Gesicht positioniert (Abb. 29, obere Reihe).[77] In »The Women« setzt Mary Haynes ihr Champagnerglas in einer zweieinhalbminütigen Szene kein einziges Mal auf der Bar ab (untere Reihe).[78]

 

Abb. 29 Obere Reihe: Standbilder aus »The Women«, 1939, 1:24:00-1:26:37; und »Our Dancing Daughters«, 1928, 0:03:30-0:04:41, Warner Brothers.

 

Auch Burton Holmes thematisierte in seinen Frankreichfilmen Alkoholkonsum, allerdings weniger explizit als die Thaws, sondern mit Fokus auf die berühmte Pariser Cafékultur. Im Café de la Paix, dem amerikanischen Touristenhotspot schlechthin.[79] sieht man drei Männer wohl einen Pastis trinken. Im Gegensatz zu Peggy und den Hauptdarstellerinnen aus »The Women« und »Our Dancing Daughters« nehmen diese aber achtlos große Schlucke und stellen die Gläser dann wieder ab (Szene  51).

Szene 51 »Seeing Paris. Part I: On the Boulevards«, R: Burton Holmes, USA 1921, 12 Min., www.travelfilmarchive.com.

 

Die Sequenzen zum Café Robinson und dem Café du Dôme – ebenfalls sehr beliebt bei amerikanischen Künstler/inne/n und Tourist/inn/en[80] – bringen gefüllte Cocktailgläser, junge schick gekleidete Frauen, Tanzende und verliebte Paare zusammen und vermitteln somit, wenn auch zurückhaltender, eine ähnliche Botschaft wie die Filme der Thaws (Szene  52).

Szene 52 »Seeing Paris. Part I: On the Boulevards«, R: Burton Holmes, USA 1921, 12 Min, www.travelfilmarchive.com.

 

Mode / Kleidung[81]

»After a hectic week in Paris, in which Peggy lost five pounds, chasing from one dressmaker’s to another, we left for England.« So beschreibt eine Texttafel in »A Motor Honeymoon« den zweiten Parisaufenthalt während der Hochzeitsreise. Die Kamera auf Peggys Einkaufstouren mitzunehmen, wäre wohl zu aufwendig gewesen und hätte zu einigen Unterbrechungen beim Bummeln geführt. Der Kommentar konstruierte Mode und Konsum als typisch weibliche Interessensfelder, die das Potenzial hatten, schnell außer Kontrolle zu geraten.[82] Auch wenn Peggys Verhalten hier ins Lächerliche gezogen wurde, bestimmte sie damit doch wesentlich den Verlauf der Reise. Darüber hinaus trugen die erworbenen Stücke zu Peggys Ruf als modischer Trendsetterin in der High Society bei. Nach ihrer Rückkehr nach New York rühmte etwa der Saragotian 1927 ihre Kleidung mit den Worten »coming from Paris, 168bear the authenticated mark of style in their newness«.[83] Thorstein Veblen, Georg Simmel und Pierre Bourdieu haben jeweils den distinktiven Charakter von Mode und den Kreislauf von Abgrenzung, Nachahmung und Aneignung betont. In einer Zeit, in der Konsumgüter und Dienstleistungen in den USA breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich wurden, konnte Peggy tatsächlich dadurch hervorstechen, dass sie ihre Kleidung in Paris kaufte und nach New York brachte; umso mehr, als es die begehrte Pariser Mode beispielsweise erst ab 1925 im Kaufhaus Bergdorf Goodman gab.[84]

Dagegen hat allerdings die neuere historische, soziologische und ethnologische Forschung kritisiert, dass dieser Ansatz kaum erklären könne, warum Mode eine bestimmte Form annehme und wie sich diese auf die Körper der Träger/innen auswirke. Stattdessen zielen diese Arbeiten zum einen auf die Körperkonzepte und Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität ab, die Kleider materialisieren. Zum anderen nehmen sie deren Beschaffenheit ernst und fragen etwa, welche Bewegungen Kleidung zulässt oder erzwingt.[85] Im Kontext der Filme stellt sich die Frage, welche Rolle Mode und Modekonsum spielten und wie sie sichtbar gemacht wurden. Wie wirkte sich darüber hinaus die getragene Kleidung auf die Auftritte vor der Kamera aus? Im Zentrum steht hier Peggy. Sie wusste bereits als Jugendliche, wie wichtig Aussehen im Allgemeinen und Modegeschmack im Besonderen für die Stellung in der High Society waren. Als junge Frau lernte sie dann schnell, sich vor Fotokameras im Studio und auf der Straße in Szene zu setzen. In den Filmen präsentierte Peggy einerseits ihre Kleidung in recht statischen Posen, die an die Studioaufnahmen erinnern, etwa in »The Second Honeymoon«, als sie ihre neuen beach pyjamas vorführt (Szene 53).

Szene 53 »The Second Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1927, 48 Min., Privatbesitz.

 

Für diese Szene zog Peggy zwei unterschiedliche Outfits an und nahm jeweils eine andere Körperhaltung ein. In der ersten Einstellung fährt die Kamera Peggys sitzenden Körper von oben nach unten entlang, um das gesamte Ensemble zu erfassen. Der beach pyjama, ein locker sitzender Einteiler mit Hosenbeinen aus leichtem Stoff, war in den 1920er Jahren ein beinahe ebenso skandalöses Kleidungsstück wie der Badeanzug. Popularisiert durch prominente Trägerinnen wie Coco Chanel zählte er jedoch bald zu den modischen must-haves am Strand, und der Ort Juan-les-Pins an der Côte d’Azur erklärte sich in einer Werbecampagne sogar zum pyjamaland.[86] Nicht nur die Kleidung selbst verwies 169dabei auf Freizeitvergnügungen. Einkaufen hatte sich vom bloßen buying zum amüsanten shopping entwickelt, und insbesondere der Warenhausbesuch galt seit der Jahrhundertwende als genuine Freizeitaktivität.[87]

Zugleich merkt man den Filmen aber auch deutlich an, dass Damenmode in den 1920er und 1930er Jahren im wörtlichen Sinne in Bewegung geriet. Dazu trugen insbesondere Modenschauen bei, die sich ab den 1910er Jahren großer Beliebtheit erfreuten.[88] In Warenhäusern liefen Models Laufstege entlang und demonstrierten vor ihrem Publikum, wie die Stoffe und Schnitte beim Gehen fielen.[89] Auch die Newsreels präsentierten die neueste Mode in dieser Form.[90] So sieht Anne Hollander die entscheidende Verbindung von Mode, Bewegung und Geschlecht im Film: »The rapid advance of the movies as the chief popular art made the public increasingly aware of style in feminine physical movement. Movies taught everybody how ways of walking and dancing, of using the hands and moving the head and shoulders, could be incorporated into the conscious way of wearing clothes.«[91] Nicht zuletzt »The Women« enhält eine aufwendig in Farbe produzierte Sequenz einer Modenschau im Kaufhaus (Szene 54).

Szene 54 »The Women«, R: George Cukor, USA 1939, 133 Min, Warner Brothers.

 

Darüber hinaus gaben Frauenzeitschriften detaillierte Anweisungen, wie der mannequin walk funktionierte, sodass jede Frau diese besondere Art des Gehens und Präsentierens lernen konnte – entscheidend waren langsame Schritte, bei denen erst der Vorder-, dann der Hinterfuß belastet wurde, während der Oberköper ruhig blieb.[92] Vor allem in den frühen Europafilmen finden sich Sequenzen, in denen sich Peggy durch das Bild bewegt und dabei gezielt oder nebenbei ihre Kleidung in Szene setzt. In »A Motor Honeymoon« kommt sie in Bellagio wie bei ­einer Modenschau aus dem Bildhintergrund auf die Kamera zu. In der nächsten Einstellung geht sie von der Kamera weg, dreht sich um, hält inne und läuft wieder Richtung Kamera. Eingerahmt ­werden beide Einstellungen passenderweise von Ladenzeilen (Szene  55).

Szene 55 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

170Insbesondere die Strandszenen in »The Second Honeymoon« sind in diesem Zusammenhang interessant, ging es doch bei Badeanzügen weniger um das Spiel des Stoffs, sondern eher um die Bewegung, die dieses Kleidungsstück dem Körper ermöglichte. Noch 1924 filmte Larry die Badenden am Lido nur in einer schamhaften Totalen, in der die spärlich bekleideten kleinen Körper nur unscharf auszumachen sind. »The costumes worn by the men would never pass an American censor«, erläutert die Texttafel ironisch bis kulturkritisch die gewählte Kameraeinstellung (Szene 56). Hier galt ganz nach Erving Goffman: »When bodies are naked, glances are closed.«[93]

Szene 56 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Bereits 1927 nahm Larry seine Frau aber am Strand in Deauville im kurzen Badeanzug auf. Wie bei der Präsentation der Badeanzüge in »The Women« trägt Peggy erst einen Umhang, den sie für die Kamera ablegt, und geht dann mit so langsamen Schritten Richtung Wasser, dass der Blick der Kamera ihr problemlos folgen und sie erst im Profil und dann von hinten zeigen kann (Szene 57).

Szene 57 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Auch auf dem Lido spaziert Peggy im selben Urlaub mit ihrer Freundin Helen am Strand auf die Kamera zu. Darauf folgen mehrere Einstellungen von Peggy im Badeanzug in einem Liegestuhl sitzend sowie stehend. Dabei bleiben die Badeanzüge stets trocken, galt es doch offensichtlich, das Kleidungsstück bestmöglich in Szene zu setzen und nicht etwa nass und am Körper klebend darzustellen (Szene 58).

Szene 58 »The Second Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1927, 48 Min., Privatbesitz.

 

Die Texttafel »Two candidates for the next Atlantic City bathing beauty contest« verortet den Badeanzug deutlich im Kontext von Körperkult, Schönheitswettbewerben und Zensur. Auch wenn Männerbademode nicht ganz ausgenommen blieb, konzentrierte sich die Kontroverse um entblößte Arme und Beine in den USA doch überwiegend auf den weiblichen Körper. Ausdruck fand sie besonders in der Miss America Pageant in Atlantic City, die 1921 das erste Mal abgehalten wurde und eine bathers’ revue bot. Während einteilige Badeanzüge in diesem Rahmen geduldet waren, mussten sich die weiblichen Badegäste am Strand von Atlantic City dem Urteil der beach patrol fügen, die Frauen in zu kurzen Anzügen des Strandes verwies.[94] Und nicht zuletzt die Berühmtheit der australischen Schwimmerin Annette Kellermann fußte vor allem auf ihren Vaudeville-Auftritten und ihren skandalträchtigen selbstentworfenen Badeanzügen.[95] Auf diese Weise nahmen die 171Thaws ähnlich wie im Zusammenhang mit der Prohibition demonstrativ die Freiheiten wahr, die ihnen Europa im Gegensatz zu den USA bot. Immerhin war Peggys Badeanzug für die 1920er Jahre nicht nur sehr knapp geschnitten, unter seinem dünnen Stoff zeichneten sich sogar ihre Brüste deutlich sichtbar ab. Bemerkenswerterweise nutzte Peggy den Badeanzug aber im Film nicht für das, wozu er eigentlich gedacht war: körperliche Bewegung. Im späten 19. Jahrhundert bestanden Damenbadeanzüge noch aus einem elaborierten Ensemble aus Korsett, Strümpfen und Schuhen und wogen bis zu dreizehn Kilo.[96] Die neuen Badeanzüge ermöglichten dagegen mehr Bewegungsfreiheit, und Schwimmen entwickelte sich in den 1920er Jahren für Männer wie Frauen zur beliebten Sportart und Freizeitaktivität, die schöne, athletische und gesunde (weiße) Körper produzierte.[97]

Abb. 30 Titelseiten Physical Culture 48 (1922) 8; 57 (1927) 6.

 

Auf dem Titelblatt einer Physical Culture-Ausgabe von 1927 springt eine Frau im Badeanzug dynamisch von einem Sprungbrett. 1922 zierte darüber hinaus eine Hürdenläuferin beim Sprung in einem ganz ähnlich geschnittenen Kleidungsstück ein 172anderes Titelblatt (Abb. 30).[98] Die Einteiler scheinen nicht nur für diese Art der Leibesertüchtigung gemacht zu sein. Sie passen auch genau auf die sportlichen und schlanken Körper bzw. passen die Körper perfekt in die Schnitte und den anliegenden Stoff. Damit unterscheiden sie sich von Peggys Figur in »The Second Honeymoon«, die zu diesem Zeitpunkt nicht ganz dem zeitgenössischen Schlankheits- und Sportlichkeits­ideal entsprach.[99] Mit ihren zum Dutt hochgesteckten Haaren wirkt sie zudem umso weniger wie die Verkörperung einer new woman, die Olaf Stieglitz insbesondere in Schwimmerinnen ausmacht.[100] Indem sich Frauen diese Sportart aneigneten, überwanden sie Geschlechtergrenzen und standen zeitgenössisch für Freiheit, Körperbeherrschung und Selbstständigkeit.[101] In den Europafilmen ging es aber gerade nicht um die Körper und Praktiken, die in den Kleidungsstücken angelegt waren. Im Vordergrund standen vielmehr jene Bewegungen, welche die Kleidung am besten präsentierten. Die Szenen führen damit noch einmal eindrücklich vor Augen, dass die Thaws in ihren Filmen Europa in erster Linie mit Konsum verbanden. Sport treibende Körper rückten dagegen in Palm Beach in den Fokus der Kamera und stehen im Zentrum des nächsten Kapitels.

Indem Larry und Peggy Europa in ihren Filmen mit Konsum verknüpften, schlossen sie erstens an ihren New Yorker Lebensstil an und stellten ganz selbstverständlich eine Verbindung zwischen ›Alter‹ und ›Neuer Welt‹ her. Somit war weniger die Reise selbst eine außeralltägliche Erfahrung, vielmehr verlieh erst das Filmen dem Urlaub eine herausgehobene und außergewöhnliche Dimension. Dabei bewegten sie sich ständig zwischen distinktivem Konsum einerseits und einem auf Spaß und Freizeitvergnügen ausgerichteten Tourismus andererseits, der für die High Society ebenso typisch war wie auch für andere amerikanische Europatourist/inn/en. Auf diese Weise konstruierten die Filme Europa als einen einheitlichen, grenzüberschreitenden Konsumraum mit deutlichen Verbindungslinien in die USA, wobei die Filme inhaltlich konsequent aufgriffen, was bereits auf der gestalterischen und narrativen Ebene angelegt war.