2693.1. Die Suche nach dem Westen im Osten: Von der Ethnologisierung zur Normalisierung

Am 21. Juni 1939 machten sich die Thaws gemeinsam mit ihrem Kameramann John Boyle und einem Automechaniker samt einem Luxuswohnmobil, zwei Lastwagen und einem geländegängigen Kleinwagen auf den Weg nach Europa.[1] Eigens zu diesem Anlass hatten sie zuvor in den USA noch einen riesigen Campingwagen von General Motors bauen lassen. Dieser sollte nicht nur komfortabel sein, sondern sich außerdem medienwirksam inszenieren lassen. Was den durchdachten und gelungenen nächsten Schritt in der High Society- und Filmkarriere der Thaws darstellte, war zugleich zumindest für Peggy auch eine zwiespältige Erfahrung. Nachdem sie kurz vor der Abreise zum ersten Mal ihr neues Wohnmobil besichtigt hatte, schrieb sie unsicher in einem Brief an einen Freund: »I went to view the trailer & the equipment to-day & it is really stunning but the bedroom is so small I grew very depressed thinking of the many hours I shall have to spend in it. […] It is all very compact but in spite of the air condition I feel cramped & oppressed. I’ll have to get over it.«[2] Tatsächlich, so wird hier nochmals klar, handelte es sich inzwischen nicht mehr um eine reine Vergnügungs- und Freizeitreise wie nach Europa und Palm Beach (wobei diese freilich schon den Vorgaben des social calendar folgten). Vielmehr fügten sich die Thaws mit ihrer letzten Reise erneut dem Zwang, ihren High Society-Status zu aktualisieren und ihre eigene Professionalisierung weiter voranzutreiben.

Abb. 43 Landkarten aus dem Vorspann von »The Great Silk Route« und »India«, 1940, Imperial War Museum.

 

Die Zusammenfassung der Reiseroute aus dem jeweiligen Vorspann gibt einen guten Überblick über die Fahrt. Die in weiß gehaltenen Landkarten machen dabei von Beginn an den Perspektivwechsel sichtbar, der »The Great Silk Route« und »India« im Gegensatz zu »Black Majesty« kennzeichnet (Abb. 43). Larrys und Peggys letzte gemeinsame Filmreise begann in Paris, wo sie sechs indische Bedienstete trafen, die sie auf der gesamten Fahrt begleiten sollten. Von dort führte sie ihr Weg weiter durch Deutschland, über Wien, Budapest und Belgrad nach Bulgarien und in die Türkei. Hier empfing sie der hochrangige Politiker Burhan Asaf Belge, der in den 1930er Jahren der Presseverantwortliche im türkischen Außenministerium war.[3] Dieser organisierte den gesamten Türkeiaufenthalt der Thaws und zeigte ihnen Istanbul und vor allem Ankara. Daraufhin fuhren sie weiter nach Damaskus in Syrien, wo die Thaws am 1. September 1939 den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erlebten, und nach Bagdad. Im Irak angekommen, nahm die Reise eine unvorhergesehene Wendung: Peggy war aufgrund der enormen Hitze gesundheitlich angeschlagen und zudem äußerst angespannt wegen der Kriegsgefahr. Ende September erlitt sie einen Nervenzusammenbruch und konnte trotz restriktiver Ausreisebestimmungen nach Nizza fliegen, wo sie sich zweieinhalb Monate erholte. Larry versuchte zu270nächst, die Abreise seiner Frau zu verhindern; neben allen persönlichen Gefühlen dürfte ihm wohl bewusst gewesen sein, dass ihm damit die weibliche Hauptrolle seiner Filme abhanden kam.[4] Schließlich lenkte er aber ein. Mitte Januar folgte Peggy ihrem Mann dann – wieder mit dem Flugzeug – über Alexandria nach Baroda in Indien.[5] Die Reise und damit die Selbstmedialisierung ganz abzubrechen, stellte offenbar keine Option dar. Larry setzte die Fahrt unterdessen nach Teheran im Iran und Kabul in Afghanistan fort; von dort aus ging es über den Chaiber-Pass nach Peshawar, dem ersten Außenposten Britisch-Indiens. »The Great Silk Route« endet in New Delhi mit einer Würdigung des Empire, die in »India« allerdings nicht aufgegriffen wird.

Der zweite Teil der Reise konzentriert sich ganz auf Indien und begleitet Larry und seine Reisegruppe kreuz und quer durch britisch regierte Gebiete, in erster Linie jedoch durch die Fürstenstaaten der Maharadschas, die sogenannten Princely States. Nach Patiala im Norden besuchte er Jaipur und Baroda im Westen (heute Vadodara; ab hier war Peggy wieder mit von der Partie) und zurück ins nördlich gelegene Jodhpur und Bikaner, über Agra und Benares nach Kalkutta auf der Ostseite und wieder in den Nordosten des Landes nach Assam. Diese Strecke legten die Thaws und ihre Begleiter teils mit dem Auto, teils mit dem Zug und teils mit dem Flugzeug zurück. Von Kalkutta aus fuhr die Gruppe Richtung Süden nach Hyderabad, Madras und Ceylon. Der letzte Teil der Reise brachte sie schließlich nach Mysore und Bombay (heute Mumbai), von wo aus die Thaws und ihr Kameramann mit dem Schiff nach Großbritannien zurückkehrten.

»The Great Silk Route« und »India« sind erzählerisch gleich aufgebaut und ähneln sich auch ästhetisch. Sie verfolgen jeweils den Verlauf des entsprechenden Reise­abschnitts anhand der durchquerten Länder und wechseln dabei zwischen Darstellungen von architektonischen Sehenswürdigkeiten und regierenden Politi271kern oder Herrschern. Diese Bilder verbinden sie mit Informationen über Land und Leute. Auf diese Weise knüpft »India« nahtlos an »The Great Silk Route« an und führt dessen Erzählung fort. Dass Peggy während der Dreharbeiten teilweise nicht anwesend war, übergehen beide Filme geflissentlich. Im Vordergrund des ersten Films stehen die bereisten (Haupt-)Städte, die er mit Blick auf Architektur und Infrastruktur vorstellt, sowie die Begegnungen mit Regierungsvertretern der einzelnen Länder (Szene 131).

Szene 131 »The Great Silk Route«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 73 Min., Imperial War Museum.

 

»India« behält diesen Fokus bei, verengt ihn jedoch auf die Maharadschas und ihren prachtvollen Lebensstil. Folkloristische Szenen über religiöse Rituale in beeindruckenden Tempelanlagen oder am Ganges ergänzen das Material über die indischen Herrscher. Die britische Kolonialverwaltung oder die indische Unabhängigkeitsbewegung klammert der Film dagegen weitgehend aus (Szene 132).

Szene 132 »India«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 82 Min., Imperial War Museum.

 

Wie bereits die kurzen Zusammenfassungen der Filme demonstrieren, zeichnen sich die Aufnahmen dadurch aus, dass sie ihren Inhalt ästhetisch normalisieren: Im Gegensatz zu den Afrikafilmen sind »The Great Silk Route« und »India« nicht in außergewöhnlichen Kameraeinstellungen und -perspektiven gedreht, die eine visuelle Differenz konstruieren. Anstatt die Gefilmten durch aufsichtige Perspektiven in eine unterlegene Position zu bringen oder durch extreme Nahaufnahmen ihre Körper zu fragmentieren und voyeuristisch anzustarren, begegnet ihnen die Kamera zumeist auf Augenhöhe, eben in einer Normalsicht.

Mit ihren letzten beiden Filmen blieben die Thaws dem Konzept des Reisefilms bzw. des ethnologischen Travelogues treu. Betrachtet man aber genauer das Authentizitätsverständnis und den narrativen Aufbau von »The Great Silk Route« und »India«, wird deutlich, wie sich die Filme nach Europa, der Karibik und Afrika verändert hatten. Denn insbesondere im Vergleich zu »Black Majesty« fällt auf, dass Authentizität nicht mehr an die scheinbare Echtheit und Unmittelbarkeit körperlicher Erfahrungen geknüpft war. Stattdessen setzte sich eine demonstrative Objektivität durch, und die beiden Nachfolger nahmen eine distanziertere und stärker dokumentierende Perspektive ein. Drei Punkte illustrieren diese neue Darstellungsweise besonders anschaulich. Erstens präsentierte sich der neu gestaltete Vorspann nun wesentlich professioneller, indem er die berufliche Expertise der Beteiligten und den hohen Organisations- und Institutionalisierungsgrad des Filmprojekts thematisiert. Er benennt den Produzenten, Sprecher, Komponisten und Autor sowie die Copyright-Inhaber (die Trans-Asia Inc. der Thaws). Western Electric, das Unternehmen, das die Tonspur produzierte, erscheint in Form seines Corporate Design-Logos.[6] Zudem ist die Titelmusik im Gegensatz zur schnellen und aufgeregten Musik aus »Black Majesty« eher getragen und unterstreicht somit den ernsthaften Charakter der Filme.

272Über dem Titel prangte zweitens die Überschrift The Thaw Asiatic Expedition, wohingegen es in »Black Majesty« noch die »Trans-Africa Safari« war. Damit attestierten sich Larry und Peggy nicht nur selbst Wissenschaftlichkeit statt Abenteurertum. Sie verwiesen vermutlich auch auf die Central Asiatic Expeditions, die Roy Chapman Andrews in den 1920er Jahren unter der Schirmherrschaft des American Museum of Natural History und mit der finanziellen Unterstützung einiger Wall Street-Millionäre durchgeführt hatte.[7] Andrews schrieb über seine Reisen zahlreiche Bücher und Artikel, unter anderem für das National Geographic Magazine und das Harper’s Magazine. Seine Expeditionen hielt er bereits in den 1920er Jahren auf Film fest, und Anfang der 1930er Jahre war er so berühmt, dass Douglas Fairbanks einen Spielfilm über China mit ihm drehen wollte.[8] Seit 1935 leitete Andrews das New Yorker Naturkundemuseum, weshalb sich die Thaws 1938 an ihn wandten, um vorab eine mögliche Kooperation zu besprechen.[9]

Drittens thematisieren beide Filme regelmäßig die eigenen Herstellungsbedingungen und erläutern dabei, worin jeweils der besondere Wert des aufgenommenen Materials liege. So zeigt der Film beispielsweise Larry bei der Arbeit mit einer Kamera oder Peggy, wie sie (angeblich) auf einer Schreibmaschine den Text für die Filme entwirft.[10] Darüber hinaus legen sie häufig offen, wie eine Szene zustande gekommen ist. Als etwa der Autokonvoi in »The Great Silk Route« bei Budapest die Donau überquert, kommentiert der Sprecher: »The scene was photographed from a steep hill«. Zum Aufmarsch der Armee des Maharadschas von Bikaner erfährt man in »India«: »His Highness entertained his princely guests with an impressive night military display. The following day he put the army through his paces again for the benefit of our cameras.« Am anschaulichsten demonstriert jedoch die Aufnahme einer gestellten Hochzeit in der Türkei den neuen transparenten Ansatz (Szene 133). Nachdem der Film bereits eine inszenierte Vermählungszeremonie bei einem Nomadenstamm gezeigt hat, verkündet der Off-Sprecher wenige Minuten später:

Let’s stage another wedding. It should be a good contrast to the Turkoman ceremony. […] All this was arranged by the resourceful Mr. Burhan Belge, and of course could never have been filmed without government assistance. […] This happy scene in a Hatai village square may never be duplicated. Old customs are evaporating under the hot glare of progress in Turkey.

Szene 133 »The Great Silk Route«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 73 Min., Imperial War Museum.

 

273Die Thaws präsentierten sich hier als Chronisten einer verschwindenden Kultur und versprachen, Ethnologen gleich, Sitten und Bräuche für die Nachwelt festzuhalten. Dass die türkische Regierung ihren Einfluss bereitwillig dazu nutzte, die Aufnahme zu ermöglichen, steigerte sogar die Glaubwürdigkeit der Szene. Diese Vorgehensweise findet sich zwar auch vereinzelt in »Black Majesty«, dort setzten die Thaws aber überwiegend auf die entgegengesetzte Präsentationsstrategie: Sie gaben gestellte Aufnahmen oder im Schnitt neu zusammengefügtes Material bewusst als ›echt‹ und unverfälscht aus. »The Great Silk Route« und »India« stellen filmische Aufnahmen dagegen demonstrativ als »Instrument wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung und Medium der Vermittlung dieses Wissens«[11] zugleich dar, wie es Dirk Verdicchio als Kennzeichen des populären Wissenschaftsfilms herausgearbeitet hat. Dabei beleuchten die Szenen auch die praktische Dimension der Herstellung von Wissen. Das macht sie freilich weder ›objektiver‹ noch ›wahrer‹ als ihre Vorgänger. Es verdeutlicht vielmehr, wie eine bestimmte Form von Wissen als solche überhaupt erst gekennzeichnet werden muss und wie sich diese Konstruktionsmechanismen verändern.[12] Nichtsdestotrotz hielten die Thaws aber auch weiterhin an einer distinkten High Society-Perspektive fest. Eine Schlüsselrolle fiel in diesem Kontext insbesondere dem Sprechertext zu, dessen launige und unterhaltsame Sprache wie gewohnt an die New Yorker Gesellschaftsberichterstattung erinnert.

Dennoch schlugen die letzten beiden Filme narrativ einen neuen Weg ein. Dies betraf besonders die visuelle Konstruktion von Raum: Nachdem sie Europa als zusammenhängenden Konsumraum und Afrika als Themenpark dargestellt hatten, in dem sie in der Zeit zurückreisten, strukturierten nationale Grenzen und deren Überschreitung die Erzählung von »The Great Silk Route« und »India«. Die Handlung entwickelte sich weiter, indem sich Larry und Peggy von einem souveränen Einzelstaat in den nächsten bewegten. Das gilt für die osteuropäischen Länder ebenso wie für die Staaten im Nahen Osten oder die Herrschaftsgebiete der Maharadschas. Dass die Filme besonders die Besuche der Hauptstädte und die Treffen mit Regierungsmitgliedern und Herrschern betonen, unterstreicht den Fokus auf die einzelnen Länder und deren Staatlichkeit umso mehr. Bemerkenswerterweise unterschieden die Thaws dabei nicht zwischen den einzelnen Repräsentanten und Staatsformen, etwa zwischen einem Wehrmachtsgeneral, dem König von Afghanistan oder dem Maharadscha von Mysore. Was auf den ersten Blick wie eine möglichst wertfreie und neutrale Perspektive erscheinen mag, erweist sich tatsächlich als politisch äußerst relevant. Auf diese Weise trugen die Filme zur Legitimation der autokratischen und diktatorischen Regime bei.

274Während in den Afrikafilmen die narrativen Strategien der Zeitreise und des Eindringens mit einer Ethnologisierung und Alteritätskonstruktion einhergingen, folgten »The Great Silk Route« und »India« einer entgegengesetzten Dramaturgie: Nachdem »The Great Silk Route« Frankreich, Deutschland und Österreich in den ersten drei Minuten abgehandelt hat, beginnt die eigentliche Reise, als die Gruppe die »Balkan«-Region durchquert. Von hier aus konstruiert der Film eine Route, die durch immer fortschrittlichere und modernere Staaten führt, bis sie schließlich Indien erreicht. Ungarn, das Königreich Jugoslawien und Bulgarien stellen den Ausgangspunkt dieser Entwicklung dar und repräsentieren eine romantisierte Vergangenheit, die von den politischen Verwerfungen in Europa eingeholt zu werden droht (Szene  134).

Szene 134 »The Great Silk Route«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 73 Min., Imperial War Museum.

 

Bei dieser Inszenierung sind Film und Musik eng miteinander verzahnt: die weiten Einstellungen der Blumenfelder und die lieblichen Streicherklänge kreieren ein idyllisches Bild von Jugoslawien, das, so betont der Off-Sprecher erneut, nur mit Hilfe der Regierung aufgenommen werden konnte. In Bulgarien dominieren daraufhin Aufnahmen von tanzenden Menschen in bunten Trachten. Die Großstädte Budapest und Belgrad streift der Film dagegen nur, Sofia thematisiert er überhaupt nicht.

Um diese Szenen einordnen zu können, lohnt es sich, die unterschiedlichen Balkanbilder und -vorstellungen zu berücksichtigen, auf deren Konstruktionscharakter die historische Forschung verstärkt hingewiesen hat. »Balkan« ist demzufolge keine neutrale Bezeichnung für Südosteuropa, sondern meinte zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Raumkonstellationen, die mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen waren.[13] Besonders im 19. und 20. Jahrhundert erschien die Region als Grenze, die den Übergang von Europa in eine »andere, orientalisch geprägte Welt«[14] markierte. Tatsächlich schildert auch »The Great Silk Route« den Balkan als Grenzregion, wenn der Erzähler kommentiert: »We came at last to the edge of a world, and crossed the Golden Horn by the Galata Bridge into Istanbul. We were in Turkey, where exciting changes have taken place since the First World War.« Die neue Welt, die der Film daraufhin präsentiert, ist allerdings keineswegs der Orient, wie ihn Edward Said in seiner einflussreichen Studie als weiblich, sexualisiert und irrational 275beschrieb.[15] Vielmehr sind der Nahe und Mittlere Osten in den Filmen der Thaws geprägt von Modernisierungsbestrebungen und einer Hinwendung zu einer amerikanisch konnotierten Fortschrittlichkeit.

Mit Ankara und Teheran zeigt »The Great Silk Route« dann zwei Großstädte, die auch nach amerikanischen Maßstäben als äußerst fortschrittlich gelten konnten, das heißt, sie verfügten unter anderem über breite Straßen, eine moderne Architektur, Banken und große Bahnhöfe (Szene 135). Für die Thaws verkörperte insbesondere Ankara diesen progressiven Geist eindrücklich, wie der Kommentar demonstriert: »Ankara is a city of wider boulevards, architecture of the most modern type, and an almost American spirit of get-things-done-in-a-hurry.« Auch die fröhlich-energische Filmmusik verbreitet analog zu den Bildern Aufbruchstimmung. Als Initiatoren dieser scheinbar durchweg positiven Entwicklung pries »The Great Silk Route« namentlich zwei Männer, nämlich Mustafa Kemal Atatürk und Reza Shah Pahlavi.

Szene 135 »The Great Silk Route«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 73 Min., Imperial War Museum.

 

Dagegen fielen Syrien, der Irak und Afghanistan zwar etwas ab, nichtsdestotrotz erkannte der Film hier aber ebenfalls Anzeichen für eine einsetzende Modernisierung nach amerikanischem Vorbild. In Damaskus trafen die Thaws beispielsweise in einem traditionellen Haushalt auf eine Familie, die westlich gekleidet war, während eine junge Frau sogar wedges trug – hochhackige Schuhe mit einem Keilabsatz, die in den 1930er Jahren in den USA in Mode waren (Szene 136).

Szene 136 »The Great Silk Route«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 73 Min., Imperial War Museum.

 

Kabul ließ dem Film zufolge immerhin »a few modern touches« erkennen; der afghanische König Mohammed Zahir Shah wollte seine Armee auf den neuesten technischen Stand bringen und holte sich dafür angeblich Anregungen beim Wohnmobil der Thaws (Szene 137).

Szene 137 »The Great Silk Route«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 73 Min., Imperial War Museum.

 

In »India« oszillieren die Aufnahmen dann zwischen Altem und Neuem. Alte Bräuche und Bauwerke mochten weiterhin bestehen, sie wurden aber eingerahmt durch modernste Infrastruktur und fortschrittliche Ideen. Diese Leistung führten die Filme auf die Maharadschas zurück. Der Ausschnitt über Mysore in »India« demonstriert exemplarisch, wie der Film die Widersprüche zwischen Vergangenheit und Gegenwart in einem zukunftsorientierten Bild auflöst: Ein Pilgerzug erreicht hier ein jahrhundertealtes Heiligtum auf einem von elektrischen Lampen erleuchteten Weg (Szene 138).

Szene 138 »India«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 82 Min., Imperial War Museum.

 

Schließlich ging es im Gegensatz zu »From Cairo to Cape« und »Black Majesty« weder in »The Great Silk Route« noch in »India« um die angebliche Kluft zwischen Zivilisation und Wildnis oder dem Westen und der fernöstlichen Welt. Für amerika276nische Augen ungewöhnliche Rituale, Kleidung oder Architektur drücken in den Filmen keine Rückständigkeit mehr aus, sondern stehen vielmehr für Folklore und Traditionen. Die Pilgerprozession zum Gommateshwara-Heiligtum in der Mysore-Szene belegt diesen Perspektivenwechsel anschaulich. Gerade mit der Darstellung des Krishnaraja Sagar-Damms rief der Film zudem amerikanische Vorstellungen von Moderne und Modernisierungskonzepten auf. Denn Staudämme – man denke etwa an den Hoover Dam – galten in den USA zu dieser Zeit als vielversprechende Großprojekte, um strukturschwache Regionen wiederzubeleben.[16]

Damit entwarfen beide Filme eine Alternative zum westlichen und insbesondere britischen kolonialen Blick auf den Nahen Osten und Indien sowie zu stereotypen Orientdarstellungen. Gerade Letzteren widmete Edward Said 1978 seine einflussreiche Studie Orientalism, die nach wie vor stark rezipiert, kritisiert und erweitert wird.[17] Said zufolge handelt es sich beim Orientalismus um einen Diskurs, der sich im 19. Jahrhundert in Europa und vor allem in Frankreich und Großbritannien herausbildete. Dieser konstituierte den arabischen Orient als das ›Andere‹ zum modernen und säkularen Westen, nämlich, wie bereits erwähnt, als weiblich, sexualisiert und irrational. Auf diese Weise stiftete er ein Herrschaftswissen, das die Unterwerfung durch die europäischen Kolonialmächte begründete und legitimierte. Trotz berechtigter Kritik hat Orientalism eine Vielzahl von Arbeiten geprägt und ist noch heute eine anregende Lektüre.[18] Jüngere postkoloniale Arbeiten konzentrieren sich inzwischen aber nicht mehr nur auf binäre Gegensätze, sondern vielmehr auf die relationalen Zusammenhänge, die Vorstellungen vom ›Eigenen‹ und ›Anderen‹ zugrunde liegen, sowie auf Gegenentwürfe innerhalb hegemonialer Diskurse.[19]

Mit Blick auf die Thaws stellt sich die Frage, welche geografischen Gebiete und welche Eigenschaften ›der Orient‹ in Nordamerika vor dem Zweiten Weltkrieg umfasste und welche Art von Wissen über die arabische Welt und Indien im Speziellen zirkulierte. Said etwa nahm an, die USA seien vor 1945 kaum politisch im Nahen Osten involviert gewesen, sodass sich auch kein orientalistisches Denken etabliert 277habe.[20] Neuere Forschungen jedoch haben dies aus zwei Blickwinkeln relativiert: Zum einen blieb der Orientalismusdiskurs in Nordamerika stark nach innen gerichtet und kreiste um Fragen, die mit dem Charakter der USA als Einwanderungsland zusammenhingen. Vor diesem Hintergrund zählte insbesondere China zum ›Orient‹ und ließ sich aus dieser spezifisch amerikanischen Perspektive als rassifizierter, nicht-weißer Gegenpol zum Westen stilisieren.[21] Diese ethnische Grenzziehung bestätigt auch »India«; hier treffen die Thaws in Assam auf eine Gruppe von Männern aus Bhutan. Die Verbindung zu China schlägt der Film über die Musik, die mit dissonanten Klängen Assoziationen mit dem Land weckt. Dabei erinnert die Darstellung deutlich an die visuelle Alteritätskonstruktion der Afrikafilme, etwa, wenn die Kamera in einer halbnahen Einstellung die Männer taxiert und die Ästhetik von Fahndungsporträts nachahmt (Szene  139). Zudem kreiert die Szene eine Differenz zwischen Zivilisation und Wildnis, indem die Kamera in einer langen Einstellung über die nackten Füße der Männer schwenkt und der Off-Sprecher die von ihnen ausgehende Gefahr betont.

Szene 139 »India«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 82 Min., Imperial War Museum.

 

Zum anderen verfolgten die USA bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus politische und wirtschaftliche Interessen im Nahen und Mittleren Osten. Für die breite öffentliche Wahrnehmung dieser Region spielte dennoch etwas anderes eine wichtigere Rolle: Konsum.[22] Hierbei vermischten sich Vorstellungen von der arabischen und der asiatischen Welt. Ab der Jahrhundertwende stellten erstens Teppiche, Stoffe, Schmuck oder Tabak nicht nur begehrte Waren dar, die als typisch orientalisch, das heißt als luxuriös und sinnlich, vermarktet wurden.[23] Warenhäuser kreierten zudem für ihre Auslagen eigens einen orientalischen Stil mit Dekorationen in bunten Farben, exotisch wirkenden Mustern und Abbildungen von Bazaren, Oasen, Moscheen und Harems. Die besondere Ästhetik und Üppigkeit der Präsentationen sollte dabei zum Kauf anregen.[24] Zweitens waren in den 1920er Jahren orientalische Tänze in Revuen mit leichtbekleideten Tänzerinnen äußerst beliebt und mischten Motive aus Tausendundeine Nacht mit erotischen Kleopatra- und Geishakostümen. Auf den ersten Blick verknüpften diese Performances den Orient ganz im Sinne Saids mit Weiblichkeit und Sexualität. Gaylyn Studlar hält in diesem 278Zusammenhang allerdings differenzierter fest, dass diese Aufführungen nicht nur ein objektivierendes Bild entwarfen, sondern vor allem für weibliche Publika sexuelle und körperliche Freiheiten jenseits etablierter Normen aufzeigten.[25]

Dass es in dieser Hinsicht auch in der High Society wenige Berührungsängste mit der asiatischen wie der arabischen Welt gab, illustriert das Beispiel der Thaws. Bereits 1923 trat Peggy mit den Spinsters in einer Tanznummer auf, in der die jungen Frauen Figuren aus dem chinesischen Mahjongg-Spiel nachstellten; dazu trugen sie asiatisch anmutende Kostüme vor dem Bühnenbild einer Pagode (Abb. 44 links).[26] Mitte der 1930er Jahre ging Peggy noch einen Schritt weiter und wählte für einen Maskenball ein Kostüm, das an eine arabische Bauchtänzerin oder Haremsdame erinnerte und sie bauchfrei und mit einem langen Schleier zeigte (Abb. 44 rechts).[27] Der Daily Mirror verwendete 1940 gerade diese vergleichsweise alte Fotografie, um einen kurzen Statusbericht der Indienreise zu illustrieren und verknüpfte auf diese Weise den Nahen Osten mit Indien.[28]

Abb. 44 Peggy als Darstellerin in der Inszenierung eines Mahjongg-Spiels, [o. A.] 1923; und im orientalischen Kostüm, abgedr. in: Peggy Thaw Saved From Jungle Tiger, Daily Mirror, 18.2.1940, [o. S.], Privatnachlass Thaw.

 

So verwundert es nicht, dass Larry und Peggy auch während ihrer Reise vor Ort in die landesübliche Tracht schlüpften und Peggy sich in einem Sari (Szene 140), Larry im Gewand eines Scheichs filmen ließ (Szene 141).

Szene 140 »India«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 82 Min., Imperial War Museum.

 

Szene 141 »The Great Silk Route«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 73 Min., Imperial War Museum.

 

Was in Afrika undenkbar gewesen wäre, war im Nahen Osten und in Indien gewissermaßen schon Routine für die Thaws. Larry freilich hatte in diesem Kontext ohnehin ein prominentes westliches Vorbild: Lawrence von Arabien. T. E. Lawrence war während des Ersten Weltkriegs als Captain der Britischen Armee im Nahen Osten stationiert, wo er den Autor und Filmemacher Lowell Thomas traf. Dieser machte Lawrence – im Scheichkostüm – in den 1920er Jahren mit seinen Filmen und Fotografien weltberühmt.[29] Anfang der 1940er Jahre wiederum verkauften die Thaws ihr Filmmaterial über den Nahen Osten und Indien an die Newsreel-Reihe Fox ­Movietone, deren Erzähler Lowell Thomas inzwischen war.[30]

Eine weitere Möglichkeit, ›den Orient‹ zu konsumieren, boten drittens Spielfilme, wobei sich zwei Arten von Filmen unterscheiden lassen: Zum einen existierten ame279rikanische Stummfilme aus den 1920er Jahren, die im arabischen Nahen Osten oder in Nordafrika spielten, wohingegen – zum anderen – die sogenannten Empire-Filme der 1930er Jahre vor allem Indien thematisierten. Der Stummfilm »The Thief of Bagdad« (1924) beispielsweise vereint märchenhafte und fantastische Elemente wie Flaschengeister oder fliegende Teppiche und zeigt Douglas Fairbanks’ abenteuerliche Versuche, die Liebe einer Prinzessin zu gewinnen.[31] »The Sheikh« (1921) dagegen entwarf das düstere Bild eines erotisierten und gefährlichen Orients: [32] Hier entführt Rudolph Valentino als Scheich die Engländerin Diana, um sie in seinen Harem zu bringen, und vergewaltigt sie. Nachdem sich die Frau erst gegen ihr Schicksal gewehrt hat, verliebt sie sich schließlich in ihren Entführer, der sich am Ende als Sohn eines Engländers und einer Spanierin entpuppt. Die Liebesgeschichte überschreitet damit letztlich doch keine ethnischen Grenzen. »The Sheikh« war derart erfolgreich, dass 1926 ein Nachfolger mit dem Titel »The Son of the Sheikh« erschien, der erneut mit Valentino in der Hauptrolle eine recht ähnliche Geschichte erzählte. Beide Filme bildeten die Grundlage für Valentinos Star-Image als exotisches Sexsymbol, wobei der Schauspieler aufgrund dieser Rolle zugleich auch als unmännlich wahrgenommen wurde.[33]

Dagegen siedelten die sogenannten Empire-Filme rund zehn Jahre später ihre Handlungen insbesondere in Indien an und thematisierten die britische Kolonialherrschaft. Britische Filme wie »The Drum« (1938) oder »The Four Feathers« (1939) und Hollywoodstreifen wie »The Lives of a Bengal Lancer« (1935), »Charge of the Light Brigade« (1936) und »Another Dawn« (1937) zeichneten ein positives Bild der Kolonialherrschaft und stellten die indische Bevölkerung entweder als kindlich naiv 280oder gefährlich dar.[34] Dabei zeigt sich oftmals eine Verbindung zum arabischen Orient, denn die Protagonisten mussten vornehmlich muslimische Umsturzversuche abwehren. Während die amerikanischen Filme aber männliche Kameradschaft in den Vordergrund rückten und sich durch Slapstickelemente und witzige Dialoge auszeichneten, konzentrierten sich die britischen Empire-Filme auf eine deutlich paternalistische Botschaft: Ihnen zufolge gewährleistete die Kolonialherrschaft den Frieden in Indien und schützte ihre Untertanen vor gefährlichen Freiheitskämpfern und religiösen Fanatikern.[35]

Bereits dieser kurze Überblick demonstriert, dass in den USA diverse Orientvorstellungen existierten, die Aneignung und Abgrenzung, Fremdes und Vertrautes vereinten. Bei aller Komplexität lässt sich aber festhalten, dass die Thaws die klassische Erzählung des sexualisierten und chaotischen Orients à la Said tatsächlich kannten. Das Paar verband sie jedoch mit der Kolonialmacht Großbritannien. Das beweist die letzte Szene aus »The Great Silk Route«, in der die Reisegruppe im britisch regierten Peshawar in Indien ankommt (Szene 142). Hier führt der Film Aufnahmen von Prostituierten, unübersichtlichen Straßen und schlechtem Essen zusammen und kommentiert die Bilder eindeutig: »Peshawar, the last outpost city of British India […]. Here is the flavor of the deeper east, the fringe of the orient Kipling knew. All the incredible sights and sounds and smells of a land that was old when the western world was toddling in infancy.«

Szene 142 »The Great Silk Route«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 73 Min., Imperial War Museum.

 

Bemerkenswerterweise wendeten die Thaws dieses Orientklischee ausschließlich auf Britisch-Indien an, was dem Selbstbild des Empire als Garant für Frieden und Fortschritt deutlich widersprach. Eine ähnliche Stoßrichtung verfolgte zudem eine Szene zu Madras in »India«, das ebenfalls unter britischer Herrschaft stand (Szene 143). Die angebliche Neuartigkeit des dargestellten Brunnens, der tatsächlich eine recht einfache Konstruktion ist und von zwei halbnackten Männern betrieben wird, erscheint im Vergleich zu Teheran, Ankara oder Mysore geradezu wie ein Witz auf Kosten des Empire.

Szene 143 »India«, Margaret und Lawrence Thaw, 1940, 82 Min., Imperial War Museum.

 

Die Thaws eröffneten mit »The Great Silk Route« und »India« somit einen speziellen Blick auf den Nahen Osten und Indien. Dieser war geprägt von der Politisierung der Filme einerseits und der High Society-Perspektive des Paares andererseits. Im Folgenden sollen diese beiden Punkte ausführlicher beleuchtet werden und erstens die Interessen der USA im Nahen Osten in der Zwischenkriegszeit erläutert werden. Zweitens lässt sich am Beispiel der Maharadschas untersuchen, welche Rolle der High Society-Status der Thaws für die Filme spielte.