1312.3. Camera! Action! - Filmische Interaktionen

Wie man sich vor einer Fotokamera verhalten musste und Körper, Kleidung und Accessoires in Szene setzte, wusste Peggy bereits, als sie 1924 ihre Hochzeits-Filmreise antrat. Vor einer Filmkamera kam es allerdings nicht darauf an, eine statische Pose einzunehmen, hier galt es stattdessen, den eigenen Körper in Bewegung zu präsentieren, eine kurze Handlung aufzuführen und dabei innerhalb des Kamerasichtfeldes zu bleiben. Die Europafilme bieten sich besonders an, um diese spezifische Medienkompetenz in den Blick zu nehmen, denn hier traten viele unterschiedliche Akteure auf: Anhand von Peggy, Larry, den Freund/inn/en des Paares, Peggys Eltern und Söhnen sowie den Haustieren der Thaws lässt sich zeigen, wie bestimmte Praktiken erlernt oder zumindest angestoßen werden konnten. Hier soll ein analytisches Instrumentarium vorgestellt werden, mit dem sich die Amateurfilme untersuchen lassen und das die Materialität, Visualität und Performativität der Quellen hervorhebt. Die Gefilmten waren dabei stets in eine Interaktion mit dem Filmenden ein­gebunden und agierten in einem Spannungsfeld aus Ermächtigung und Entmäch­tigung – zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Sichtbarkeit. Die Frage von Handlungsmacht und Medienkompetenz beschränkt sich jedoch nicht auf die Amateurfilme, sondern ist ebenso zentral im Kontext der späteren Afrika- und Indienfilme, als zunehmend Angehörige anderer Ethnien in den Fokus rückten.

Peggy

In den Europafilmen war Peggy überwiegend alleine oder mit amerikanischen Freund/inn/en zu sehen. Betrachtet man Peggy über den Zeitraum von acht Jahren, 132werden unterschiedliche Verhaltensweisen vor der Kamera sichtbar, die von einem selbstbewussten Auftritt bis zur vollkommenen Verweigerung reichen. Die Filme stehen dabei nicht isoliert für sich, sondern in einem engen Zusammenhang mit Peggys High Society-Karriere. Unterscheiden lassen sich zwei Gruppen: die Szenen, in denen Peggy kooperierte, und diejenigen, in denen sie gegen ihren Willen gefilmt wurde oder sich zumindest gespielt widerwillig gebärdete. Im Folgenden sollen zum einen die visuelle Dimension der Filme über die Kameraeinstellungen und -perspektiven, der Raum vor der Kamera und die Blickbeziehungen beleuchtet werden. Zum anderen eröffnen Erving Goffmans Arbeiten einen Ansatzpunkt, um die filmischen Interaktionen zu analysieren.

Wenn Peggy freiwillig solo auftrat, führte sie meist ein Repertoire von kleinen Handlungen für die Kamera auf, die den Verlauf der Szene konstituierten. Beispielhaft dafür ist die Frühstücksszene im ersten Film, in der Peggy in der Zeitung blätterte, mit dem Geschirr hantierte, ihren Ehering vorzeigte und immer wieder lächelnd direkt in die Kamera blickte (vgl. Szene 6). Ähnlich zeigte sie sich etwa 1924 bei der Überfahrt nach Europa, wo sie für die Kamera den Kopf drehte, lächelte und eine kleine Grimasse zog (Szene 15) oder 1927 am Strand von Deauville entlang ging (Szene 16). Entscheidend waren, so wird bereits hier deutlich, Bewegungen.

Szene 15 »A Motor Honeymoon, Margaret und Lawrence Thaw«, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Szene 16 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Larry filmte seine Frau jeweils aus einer Normalperspketive, die Kamera befand sich also auf Augenhöhe mit Peggy und diese erwiderte stets den Blick. Die Großaufnahme der Einstellung erzeugt zudem Nähe zwischen dem/der Betrachter/in und Peggy. Vor allem der Fokus auf das Gesicht ruft oft einen Eindruck von Intimität hervor, was bereits Thomas Macho betont hat: »Gesichter simulieren Nähe«.[1]

Hier geht es jedoch nicht nur um vorgetäuschte Nähe oder die überwältigende Wirkung eines Gesichts in einer Großaufnahme. Vielmehr müssen in diesem Kontext vier Aspekte hervorgehoben werden, die die Aufnahmen prägten. Da die frühen Amateurfilmkameras keine Zoomfunktion hatten, musste Larry seiner Frau erstens tatsächlich räumlich näherkommen, wenn er sie in einer großen Einstellung und im Zentrum des Bildes zeigen wollte. Mit Goffman lässt sich daher zweitens festhalten, dass Peggy zugänglich erscheint, weil sie es der Kamera erlaubte, in ihren »persön­lichen Raum« einzudringen. Drittens zeigt sich in der Strandszene (vgl. Szene 16), dass der Handlungsraum, den die Kamera vorgab, die Bewegungen der Gefilmten bestimmte. Peggy geht zwar am Strand entlang, tut das allerdings so langsam, dass die Kamera ihr problemlos folgen kann und sie nie das Bild verlässt. Viertens gewähren die Filme ganz im Sinne der Gesellschaftsberichterstattung einen vermeintlichen Blick durchs Schlüsselloch in private Räume und lassen ihre Protagonistin nahbar und authentisch erscheinen. In der Frühstücksszene trägt Peggy beispiels133weise nur einen Morgenmantel. Auch wenn sie sich bereits frisiert und geschminkt präsentiert und die Aufnahme somit offenbar erwartete, war dies durchaus bemerkenswert in einer Zeit, in der Frauen nicht ohne Hut auf die Straße gingen. Die Szene im Badeanzug geht in dieser Hinsicht noch einen Schritt weiter.

Das Sichtfeld vor der Kamera kann aber nicht nur über räumliche Nähe und Distanz gefasst werden. Es nimmt auch die Funktion einer sogenannten »Vorderbühne« ein, also jenes Ortes, an dem Goffman zufolge eine Aufführung für ein Publikum gegeben wird; dieser steht die »Hinterbühne« gegenüber, wohin sich die Darsteller/innen zurückziehen, beraten und einen Moment innehalten können.[2] Im Fall der Thaws wäre dies der Raum außerhalb des Sichtfelds der Kamera bzw. all diejenigen Situationen, in denen die Kamera nicht lief – etwa wenn Peggy sich am Frühstückstisch positionierte, bevor Larry die Kamera aufzog. Die laufende Kamera, so lässt sich dieser Zusammenhang skizzieren, verwandelt die »Hinterbühne« dann in eine »Vorderbühne«. Auf der »Hinterbühne« kommt nun nicht das wahre und authentische Wesen der Akteure zum Vorschein, denn auch hier handelt es sich um eine Bühne und eine genuin theatrale Situation. Vielmehr gelten an beiden Orten unterschiedliche Erwartungen an das Verhalten der Akteure durch unterschiedliche Publika.[3] Die Zuschauer/innen, an die Larry und Peggy sich mit ihren Filmen richteten, ihre New Yorker Freund/inn/e/n, waren allerdings im Moment dieser Aufnahmen meist nicht anwesend, sondern erst später bei der Filmvorführung. Ebenso wie in der High Society die Grenzen zwischen Reporter/inne/n, Protagonist/inn/en und Publika verschwammen, so war auch Peggy in den Amateurfilmen Hauptdarstellerin und (später) Zuschauerin.

Schließlich waren Peggys Handlungen vor der Kamera immer in eine Interaktion mit Larry eingebunden. Der Austausch von Blicken und Gesten gab Auskunft über die Beziehung des Paares und konstituierte sie zugleich. Wenn Peggy gefilmt werden wollte, markierte sie durch wiederkehrende Handlungselemente wie das Lächeln und einen direkten Blick in die Linse ihre Zustimmung. In Anlehnung an Goffman kann man diese Einzelhandlungen als »Zugänglichkeitsrituale« verstehen, die den positiven Status einer Beziehung anzeigen und auf diese Weise Alltagsinteraktionen koordinieren. Seine Ausführungen zum Akt des Grüßens klingen dabei geradezu wie eine Beschreibung der Filmszenen: »Ihre Blicke treffen sich einen Augenblick, die Augen leuchten auf, durch ein Lächeln wird soziale Anerkennung zum Ausdruck gebracht, es werden Anzeichen der Freude geäußert. Man winkt mit der Hand, tippt an den Hut oder macht andere Beschwichtigungsgebärden«.[4] Zum einen brachten die Aufnahmesituationen spezifische, durch die Kamera vermittelte 134Interaktionsformen hervor, zum anderen ließen sich die Hochzeitsreise und andere wichtige Momente später in den Filmvorführungen unendlich reproduzieren.

Die Szenen, in denen die Interaktionen zwischen Larry und Peggy als Alleinunterhalterin reibungslos verliefen, überwiegen in »A Motor Honeymoon« (1924) und »The Second Honeymoon« (1927). Umso stärker heben sich dagegen diejenigen Aufnahmen ab, in denen Peggy nicht gefilmt werden wollte. Eine Szene im Grandhotel in Bern von 1924 bietet ein sehr anschauliches Beispiel: Die Sequenz besteht aus mehreren Aufnahmen, die (wahrscheinlich) über einen Tag verteilt entstanden. Indem Larry sie auf diese Weise zusammensetzte und mit den entsprechenden Texttafeln versah, scheinen die unterschiedlichen Handlungen aber direkt auseinander hervorzugehen. Ein genauerer Blick auf die einzelnen Einstellungen ist also angebracht (Szene 17):

Szene 17 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Zuerst filmte Larry die schlafende Peggy in einer halbnahen Einstellung und aus einer leichten Aufsicht. Um seine Frau so nah wie möglich zu zeigen, musste sich Larry auch räumlich nah an die Schlafende heranschleichen, was einer besonderen Verletzung des »persönlichen Raums« gleichkam. Der unbemerkte Blick durchs Schlüsselloch zielte in dieser Situation darauf ab, Peggy vermeintlich privat und ungestellt auf der »Hinterbühne« sichtbar zu machen. Naheliegenderweise betont auch Goffman, dass Bade- und Schlafzimmer geschützte Räume darstellen, die nicht auf Interaktionen und die Anwesenheit von Zuschauer/inne/n ausgerichtet seien.[5] Tatsächlich filmte Larry Peggy in den folgenden Jahren immer wieder schlafend (Abb. 21). Hier schlug sich offenbar der Trend in der Gesellschaftberichterstattung nieder, die Mitglieder der High Society auf Partys so zu fotografieren, dass ihnen die Aufnahme­­si­tuation scheinbar nicht bewusst war.[6]

Abb. 21 Aufnahmen der schlafenden Peggy in »A Journey Through Bavaria«, 1930, und »From Cairo to Cape«, 1935, Imperial War Museum.

 

In diesem Kontext wird aber auch deutlich, wie die Materialität der Kamera den Filminhalt beeinflusste: Das Aufziehen des Federwerks und das Durchlaufen des Films verursachten hier offenbar Geräusche, sodass Peggy aufwachte und Larry sie nicht länger heimlich filmen konnte. Daraufhin versuchte sich Peggy der Drehsituation zu entziehen, indem sie ihr Gesicht unter einem Kissen verbarg.     

In der nächsten Einstellung erhebt sich Peggy aus dem Bett, streckt theatralisch die Arme und wirft einen wütenden Blick in die Kamera, bevor sie sich anschickt, das Zimmer zu verlassen. Die Aufnahme stoppt jedoch vorher. Daraufhin präsentiert sie sich freundlich beim Frühstück im Bett und beim anschließenden Mittagessen. Hier erscheint sie wie gewohnt in Nah- und Großaufnahmen in einer Normalperspektive. Sie erwidert lachend den Kamerablick und setzt Geschirr und Zigarette für die Aufnahme in Szene. Die Sequenz endet mit Peggy während der Autofahrt, die nun wieder ärgerlich den Kopf schüttelt und gestikuliert. Gerade die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Einstellungen lässt Peggys unwilliges Verhalten als 135abweichend erscheinen, wobei die Texttafeln besonders auf ihre Mimik abzielen: »Note dirty look« weist explizit auf das fehlende Lächeln hin.

Goffman nennt unpassendes Verhalten, das zu Unstimmigkeiten in einer Interaktion führt, »eine Szene machen«.[7] Dieser Ausdruck schließt eine performative Dimension ein, die darauf verweist, dass durch Störungen neue Situationen und Handlungsbedingungen geschaffen werden.[8] Peggy wich in den entsprechenden Szenen demonstrativ von ihrem gewohnten Verhalten vor der Kamera ab, fiel damit allerdings keineswegs aus ihrer Rolle. Im Bewusstsein, gefilmt zu werden, verhielt sie sich vielmehr dramatisch wütend und machte im wahrsten Sinne des Wortes eine Szene, bei der sie in einem »schöpferischen Akt der Distanzierung«[9] bewies, ihre Rolle vor der Kamera so gut zu beherrschen, dass sie sich auch teilweise von ihr lösen konnte. Oder, mit Judith Butler betrachtet, die Handlungsmacht der/s Einzelnen liegt innerhalb der regulierten Wiederholungen von gesellschaftlich etablierten Normen, nämlich in der Möglichkeit, sie zu variieren und beim Zitieren zu verschieben.[10] Während der männliche Blick der Kamera hier also durchaus eine Machtasymmetrie herstellte, erhielt sich Peggy dennoch ihre Handlungsmacht. Bemerkenswerterweise blieb Peggy bis auf zwei Ausnahmen in allen Europafilmen immer im Bild, was umso mehr für die Wirkung der Kamera spricht, den Bewegungsrahmen der Gefilmten festzulegen. Der Wille bzw. Zwang, vor der laufenden Kamera etwas vorzuführen, war offenbar recht groß. Als sich Peggy im Schlafzimmer in Bern schließlich doch anschickte, wütend aus dem Bild zu gehen, brach Larry die Aufnahme ab. Aus den Sichtgrenzen der Kamera auszubrechen, markierte 136in diesem Zusammenhang einen Tabubruch, den sowohl Kameramann als auch Protagonistin zu vermeiden suchten.[11]

Nun stellt sich allerdings die Frage, warum diese Szenen überhaupt in den Film gelangten, visualisieren sie doch das Scheitern von Interaktionen, die eigentlich Nähe und Zugänglichkeit herstellen sollten. Mit seinen Texttafeln scheint Larry aber erstens eine Möglichkeit gefunden zu haben, im Nachhinein die Deutungshoheit über Peggys Verhalten zu erlangen. Seine Interpretation stellte ihn selbst in einem positiven Licht dar, während er Peggys abweichendes Verhalten auf angeblich typisch weibliche Eigenschaften zurückführte. Er unterstellte seiner Frau Technikfeindlichkeit – »Larry stops to take a movie – the day is utterly ruined« –, Bequemlichkeit und Launenhaftigkeit: Peggy steht spät auf (»at the crack of dawn, i. e. 10 a. m.«), und das nur, weil Larry sie nicht weiterschlafen lässt (»After half an hour of strenuous effort on Larry’s part.«), hat häufig schlechte Laune und lässt sich erst durch ein Frühstück oder ein Glas Wein besänftigen.

Diese Szenen in den Film zu integrieren bedeutete zweitens auch, den Fokus der Gesellschaftsberichterstattung auf menschliche (und insbesondere Beziehungs-) Dramen zu übernehmen und einen launigen Kommentar dazu abzugeben. Drittens war es für die Klatschgeschichten, wie bereits erwähnt, nicht ungewöhnlich, Menschen abzubilden, die nicht fotografiert werden wollten.[12] Auch wenn die amerikanischen Society Pages vor allem fotografierwillige High Society-Damen zeigten, widmete beispielsweise die deutsche Illustrierte Revue des Monats im Oktober 1930 dieser Thematik unter dem Titel »Nein – ich lasse mich nicht photographieren!« einen vierseitigen Artikel.[13] Auf einer Doppelseite prangten Fotografien von deutschen Politikern und Kriminellen sowie von einer New Yorker Nachtclubbesitzerin, die sich allesamt abwendeten und ihre Gesichter verbargen (Abb. 22).

Abb. 22 Unfreiwillig Fotografierte, abgedr. in: Hubert Miketta, Nein – ich lasse mich nicht photographieren!, Revue des Monats 4 (1930) 12, S. 1233-1236, S. 266 f.

 

Der Autor Hubert Miketta verglich den Fotografen mit einem »Jäger«, der seiner Beute – dem »scheuen Wild« – nachstelle, und brachte damit drastisch auf den Punkt, wie der Blick der Kamera eine hierarchische Beziehung herstellen konnte.[14] In diesen Aufnahmen ertappe, so Miketta darüber hinaus, der Fotograf das »privat[e] Gesicht« der Abgebildeten.[15] Peggys mürrisches bis aufgebrachtes Benehmen bot im Gegensatz zum wiederkehrenden, gut gelaunten Handlungsrepertoire also auch einen vermeintlichen Blick hinter die Kulissen. Darüber hinaus zeigt sich in diesem Zusammhang, wie bestimmte Abbildungsweisen der human interest- und Klatschgeschichten transnationale Verbreitung fanden.

 

137In den 1930er Jahren zeichnete sich allerdings ein Wandel in Peggys Verhalten ab, und sie verlor offenbar jegliches Interesse daran, gefilmt zu werden. Statt Freundlichkeit oder Unmut zur Schau zu stellen, ließ sie die Aufnahmen nun einfach über sich ergehen, ohne in die Kamera zu blicken, ihre Mimik zu verändern oder in irgendeiner Weise Notiz von der Drehsituation zu nehmen (Szenen 18, 19).

Szene 18 »A Journey through Bavaria«, Margaret und Lawrence Thaw, 1930, 55 Min., Imperial War Museum.

 

Szene 19 »The Whole Damn Family in Europe«, Margaret und Lawrence Thaw, 1933, 62 Min., Imperial War Museum.

 

Einerseits hatte sich Peggy inzwischen sicherlich daran gewöhnt, gefilmt zu werden. Möglicherweise besaß Larry inzwischen auch eine Kamera, mit der man länger ohne Unterbrechung filmen und die man einfacher bewegen konnte, sodass eine Aufnahme nicht mehr so genau abgesprochen werden musste. Andererseits scheinen sich mit »A Journey Through Bavaria« und »The Whole Damn Family in Europe« aber auch die Distinktionsmöglichkeiten des Amateurfilms für Peggy erschöpft zu haben. Erst unter der Regie der professionellen Kameramänner in Afrika und Indien fügte sie sich wieder in die bekannten Verhaltensmuster. Wie bei der Gestaltung der Filme durch Bild- und Texttafeln spricht auch Peggys Verhalten in den Amateurfilmen für einen – nur auf den ersten Blick paradoxen – umgekehrten Professionalisierungsprozess: In »A Motor Honeymoon« präsentierte sie sich am deutlichsten als Star des Films und demonstrierte, alle Facetten dieser Rolle zu beherrschen, während sie sich in den folgenden Jahren immer stärker zurücknahm.

Dagegen lässt sich bei Larry als Kameramann eine entgegengesetzte Entwicklung beobachten: Er verlagerte seine Aufmerksamkeit in den 1930er Jahren zunehmend 138auf andere Frauen und nahm dabei immer stärker den Fokus eines High Society-Berichterstatters ein. Während in »A Motor Honeymoon« und »The Second Honeymoon« beinahe ausschließlich Peggy in Einzelszenen zu sehen ist, bleibt sie in den beiden letzten Europafilmen oftmals unsichtbar; stattdessen haben nun andere Frauen Soloauftritte. Unter ihnen befanden sich professionelle Entertainerinnen wie die Opersängerin Frieda Hempel und die Broadwayschauspielerin Louella Gear. Hempel zeigte sich der Drehsituation gewachsen und warf der Kamera dementsprechend exaltiert Handküsse zu (Szene 20).

Szene 20 »A Journey through Bavaria«, Margaret und Lawrence Thaw, 1930, 55 Min., Imperial War Museum.

 

Louella Gear (im Film Heckscher) verhielt sich zurückhaltender, nahm jedoch erst eine leicht schräge Pose ein und zeigte dann durch einen Augenaufschlag, Blinzeln und Lächeln eine ausdrucksstarke Mimik. Insbesondere die Großaufnahmen von Kitty Miller (Jules Baches Tochter) und Louella Gear, der sich Larry mit einem Schnitt in zwei Schritten näherte, ähneln den auf räumliche Nähe und Intimität abzielenden Darstellungen von Peggy. »The Whole Damn Family in Europe« endet sogar mit einer Großaufnahme von Louellas Gesicht (Szene 21).

Szene 21 »The Whole Damn Family in Europe«, Margaret und Lawrence Thaw, 1933, 62 Min., Imperial War Museum.

 

Noch deutlicher tritt der neue High Society-Fokus in »A Journey Through Bavaria« während der Wagnerfestspiele in Bayreuth zutage, die Larry in einer außergewöhnlich langen zusammenhängenden Sequenz festhielt (Szene 22).

Szene 22 »A Journey through Bavaria«, Margaret und Lawrence Thaw, 1930, 55 Min., Imperial War Museum.

 

Bei dieser Gelegenheit setzte er die Festspiele in Szene, wie er es von der Eröffnungsgala der Metropolitan Opera kannte, und griff damit die Sehgewohnheiten seiner Zuschauer/innen auf, wenn er etwa informierte: »The girl in the large hat is Princess Marie Jose [!] of Belgium, now the Crown Princess of Italy.« Larry achtete sogar auf die Modeauswahl und musste kritisch feststellen: »Many of the audience wore evening clothes despite the fact that the opera began at four in the afternoon.« Darauf folgen mehrere Aufnahmen von prunkvoll gekleideten Frauen, deren Körper die Kamera observierend von oben nach unten abfährt. Schließlich blieb selbst das Restaurant des Festspielhauses nicht unerwähnt und dürfte die New Yorker Freund/inn/e/n ebenfalls an die Metropolitan Opera erinnert haben. Hier trafen sich High Society und Journalist/inn/en nach dem Schaulaufen vor dem Eingang nochmals in Sherry’s Bar im Gebäude der Metropolitian Opera, um in einem etwas intimeren Rahmen weiter zu posieren und zu fotografieren.[16] Larry verstärkte die Beobachtungssituation zudem noch, indem er sie quasi verdoppelte: Der Film zeigt nicht nur die Operngäste, sondern auch die Bayreuther/innen, die am Straßenrand aufgereiht deren Ankunft bestaunen, und erläutert: »Crowds of the villagers watch the arriving celebrities« – womit er auch sich selbst gemeint haben dürfte.

 

139Die Szenen mit Peggy eröffnen eine Perspektive auf das Spannungsfeld von sich selbst sichtbar machen bis unfreiwillig sichtbar oder unsichtbar gemacht werden. Sie offenbaren, wie Sichtbarkeit stets mit einem ambivalenten Wechselspiel von Ermächtigung und Entmächtigung einherging und den Körper zum Schauplatz von Handlungsmacht, Resistenz oder Zwang machte. Begreift man diese filmischen Interaktionen mit Andreas Reckwitz als Praktiken, zeichnet sich einerseits über die Jahre eine gewisse Routine und Berechenbarkeit ab. Andererseits blieben sie aber stets ergebnisoffen und konfliktanfällig.[17] Das gilt nicht nur für Peggys Einzelauftritte, sondern trifft auch auf die Gruppenszenen zu.

Gruppenszenen

Agierte Peggy zusammen mit New Yorker Freund/inn/en vor der Kamera, galt es, das gemeinsame Tun zu koordinieren. Auch diese Kompetenz hatte sich Peggy für Fotoaufnahmen längst angeeignet. Während einige der Bekannten vor der Filmkamera etwas unsicher auftraten oder der Anleitung bedurften, organisierte Peggy gekonnt den Verlauf der Szenen. Als sie sich in »A Motor Honeymoon« vor Beginn der Reise von ihren Freundinnen Francis McCoon und Mary Moore verabschiedete, dominierte sie das Geschehen deutlich (Szene 23).

Szene 23 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Peggy gestikuliert erst wild mit den Händen in der Luft, dann reißt sie plötzlich Mary weiter ins Bild und zieht das Tuch herunter, das deren Kopf bedeckt. Die drei Frauen beugen sich lachend zueinander, woraufhin Peggy Francis das Haar zaust, den eigenen Hut abnimmt und ihn der Freundin aufsetzt. Mary, die nun offensichtlich begriffen hat, worum es geht, ergreift einen zweiten Hut, und die Frauen beginnen, ihre Kopfbedeckungen zu tauschen. Was auf den ersten Blick vollkommen banal erscheinen mag, erweist sich bei genauerem Hinsehen als gezielte Strategie Peggys, die Reaktionen der anderen zu lenken und einen Handlungsverlauf zu konstituieren. Mary und Francis fiel es dagegen zunächst schwerer, sich vom gewohnten statischen Verhalten für eine Fotografie zu lösen.

 

Ähnlich gestaltet sich eine Aufnahme auf der Aquitania zu Beginn der Überfahrt 1924 (Szene 24). Hier steht Peggy (ganz links) mit neun Personen auf dem Schiffsdeck, sie ruft etwas in Richtung der Kamera und schlägt ungeduldig mit der Hand auf die Reling. Dann – und dies scheint die eigentlich vorgesehene Handlung zu sein – geht sie von links nach rechts an allen Bekannten vorbei und schüttelt ihnen die Hand oder küsst sie auf die Wange. Peggy inszenierte sich geradezu als Gastgeberin, die alle nicht nur auf dem Schiff, sondern vor allem vor der Kamera willkommen hieß.

Szene 24 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

140In beiden Szenen bewies Peggy ihre Medienkompetenz gegenüber anderen, was zum einen ihren High Society-Status betonte, zum anderen aber auch zumindest implizit auf die Filmstars in Hollywood verwies. Neu war dieses exaltierte Verhalten vor der Kamera freilich nicht, übernahm Peggy doch bereits bei den Spinsters die (mediale) Hauptrolle. Eine hervorgehobene Stellung im Freundeskreis etablierte sie in den Filmen nicht zuletzt, indem sie den Raum vor der Kamera beherrschte. Bei der Begrüßung auf dem Schiff wird zudem deutlich, wie die laufende Kamera die »Hinterbühne« in eine »Vorderbühne« verwandelte. Die Gruppe hatte sich bereits aufgereiht, bevor Larry zu filmen begann; mit dem Beginn der Aufnahme setzt auch die ›Handlung‹ ein. Wie eng »Hinter-« und »Vorderbühne« hier jedoch verknüpft waren, zeigt sich, als Peggy, die offenbar nicht bemerkt hatte, dass die Kamera bereits lief, auf die Reling schlug und Larry wohl eine Aufforderung zurief. Diese Geste war aber nicht weniger theatralisch und ebenso für die Augen der Freund/inn/e/n bestimmt wie die folgende Begrüßung. Schließlich waren in dieser Situation die Publika der »Hinter«- und »Vorderbühne« wie für die spätere Filmvorführung in New York auch (weitgehend) identisch.

In Amateurfilmen stellen Gruppenszenen eine besondere Herausforderung für alle Beteiligten dar. Goffman verwendet den Begriff des »Ensembles« für jede Gruppe von Akteuren, die in einer gemeinsamen Darstellung an einem bestimmten Eindruck arbeiten.[18] Dabei sind sie aufeinander und die »dramaturgische Mitarbeit« aller Beteiligten angewiesen, denn wie alle Praktiken sind die Aufführungen nicht vollständig planbar und störungsanfällig.[19] Ein/e Regisseur/in – wie Larry – kann zu angemessenen Verhaltensweisen anspornen, während bestimmte Darsteller/innen als Stars des Ensemles – wie Peggy – das Geschehen durch ihre »hohe dramatische Dominanz« bestimmen.[20]

Die Szene illustriert zudem erneut, dass die Rollenverteilung im Film der Thaws wie in der High Society nicht eindeutig festgelegt war. Auf dem Schiff forderte Peggy Larry offensichtlich dazu auf, mit dem Filmen zu beginnen. Indem sie außerdem die Handlungen der anderen Personen lenkte, nahm sie selbst die handlungsmächtige Position einer Regisseurin ein. Dass das erfolgreiche Agieren vor der Kamera und die geteilte Interaktionskompetenz darüber hinaus gruppenbildend wirken konnten, beweist die im Nachhinein eingefügte Texttafel, welche die Szene mit »The gang on the Aquitania« ankündigt.

In ihrer Arbeit zur systematischen Filmanalyse definiert Martina Roepke Figuren, die in Drehsituationen typische Handlungsmuster ausführen. Neben dem Kameramann gibt es die Figuren, die vor der Kamera agieren, wie zum Beispiel den »Artisten«, der Kunststücke (Handstand, Tanz etc.) vorführt, den »Boykotteur«, der versucht, sich durch Nichtverhalten der Interaktionssituation zu entziehen, oder den 141»Assistenten«, der darauf abzielt, ein bestimmtes Verhalten bei den anderen Beteiligten hervorzurufen. Letzterer richtet sich Roepke zufolge meist nach den Anweisungen des Kameramanns. Während diese Schematisierung einerseits hilfreich ist, um eine Szene zu analysieren, erweist sie sich andererseits als zu statisch. Zudem geht Roepke davon aus, dass »die Handlungsrollen eng verknüpft mit de[n] sozialen Rolle[n]« seien, also der Vater oft die Technik beherrsche und die Aufnahmesituation möglicherweise eine patriarchale Machtstruktur abbilde.[21] Die Filme der Thaws zeigen jedoch, dass dieses Argument zu kurz greift. Immerhin handelt es sich hier doch um performative Akte, die nicht nur etwas repräsentieren, sondern soziale Rollen immer auch herstellen.

Larry

War Larry im Film zu sehen, handelte es sich immer um seine bewusste Entscheidung, denn er musste vorher die Kamera weitergeben. Das kam jedoch nur äußerst selten vor: In »A Motor Honeymoon« taucht er in sieben Szenen auf, in »The Second Honeymoon« in zwei, in »A Journey through Bavaria« nur einmal und in »The Whole Damn Family in Europe« fünfmal. Hier stellt sich die Frage, wer stattdessen filmte und wie sich diese Konstellation auf die Blickbeziehungen und Interaktionen auswirkte. Wahrscheinlich übernahm auf der Hochzeitsreise der Chauffeur Kite, wie im Vorspann angekündigt, diese Aufgabe, während Peggy wohl in den späteren Filmen aushalf. »A Motor Honeymoon« ist zudem der einzige Amateurfilm, in dem Larry und Peggy zusammen auftreten – etwa beim Mittagessen in Genf und Leuk (Szene 25) oder auf dem Weg über den Simplonpass (Szene 26).

Szene 25 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Szene 26 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

In diesen Aufnahmen fand die Interaktion stets vor der Kamera und nicht mit dem Filmenden statt. Beim Essen, Alkoholtrinken und Rauchen oder bei einer Schneeballschlacht präsentierten und inszenierten Larry und Peggy ihre Ehe als eine auf Konsum und Spaß ausgerichtete Beziehung, wie sie auch die Society Pages beschrieben. Kite als Instanz hinter der Kamera blieb davon ausgeschlossen – die kurzen Blicke in die Kamera führen zu keiner erkennbaren Interaktion wie zwischen Peggy und Larry als Kameramann.

 

Diese Art des Blickaustausches lässt sich mit Goffman als »›leeres Blicken« charakterisieren: Obwohl sich zwei Akteure ansehen, bleibt hier gerade eine »soziale Anerkennung‹« aus.[22] Während sich Larry und Peggy vor der Kamera einander zugewandt und nahbar zeigten, hielten sie ihren sozial untergeordneten Chauffeur auch über die Blicke auf Distanz. So verwundert es kaum, dass ebenso wenig eine Interaktion entstand, wenn Larry Kite filmte, der stets mit gesenkten Augen seiner 142Arbeit nachging. Kite war für die Thaws nicht als Person filmenswert, sondern stand für einen Konsumakt und eine Dienstleistung; diese Szenen werden deshalb erst im folgenden Kapitel analysiert.

Agierte Larry alleine oder mit anderen Personen vor der Kamera, demonstrierte er immer seine Medienkompetenz, indem er einen kurzen Handlungsverlauf für den Film aufführte. In »A Motor Honeymoon« schwimmt er beispielsweise im Gardasee auf die Kamera zu und wieder weg, winkt und lächelt (Szene 27).

Szene 27 »A Motor Honeymoon«, Margaret und Lawrence Thaw, 1924, 90 Min., Privatbesitz.

 

Zwei Punkte lassen sich hier festhalten: Vergleicht man erstens Larrys Verhalten vor der Kamera mit den Aufnahmen von Peggy, dann wird deutlich, dass er sich an ihrem Repertoire von Handlungsschritten orientierte. Den direkten lächelnden Blick und die Gesten Richtung Kamera sowie die unterschiedlichen kleinen Handlungsabläufe präsentierte Peggy in den 1920er Jahren stets, wenn sie gefilmt werden wollte. Passenderweise beschreiben die Texttafeln ihr Verhalten immer nur dann als spezifisch weiblich, wenn sie von diesem kooperativen Benehmen abwich, sodass die Filme auf diese Weise den relationalen Charakter von Geschlechterrollen visualisieren und Weiblichkeit mit Launenhaftigkeit gleichsetzen. Zweitens ist es bemerkenswert, dass Larry die Kamera so selten abgab, obwohl er den Drehsituationen als Protagonist durchaus gewachsen war. Statt öfter mit Peggy in Erscheinung zu treten oder stärker seine Medienkompetenz vor der Kamera zu präsentieren, nahm er lieber die Rolle des technisch versierten Regisseurs ein und vollzog zugleich seine zurückgenommenere mediale Position in der Gesellschaftsberichterstattung nach.

Kinder, Großeltern, Haustiere

Alte Menschen gemeinsam mit Kindern und Tieren in den Blick zu nehmen und nach ihrer jeweiligen Rolle im und für den Film zu fragen, ist deshalb naheliegend, weil sie nur in einem einzigen Reisefilm zusammen vorkommen. In »The Whole Damn Family in Europe« haben nicht nur Peggys Eltern Edward und Agnes Stout einen Auftritt, sondern auch ihre Söhne Lawrence jr. und David sowie ihre Hunde, zwei kleine Terrier. Diese Kombination ist kein Zufall, ließen Larry und Peggy ihre Kinder und Haustiere doch meist während ihrer Reisen in der Obhut der Großeltern in New York. Davon wichen sie auch in Europa nur teilweise ab; Großeltern, Kinder und Hunde verbrachten einen Großteil des Europaaufenthalts in Biarritz, während das Paar Peggys Eltern nur auf einen Abschnitt der Autofahrt über den Kontinent mitnahm. Darüber hinaus bietet sich dieser Fokus aber noch aus einem anderen Grund an: Großeltern, Kinder und Tiere verfügten über jeweils unterschiedliche Formen von Medienkompetenz, die erst in ihrem Zusammenspiel zu befriedigenden Filmergebnissen führten. Im Kontext von »The Whole Damn Family in Europe« kann also die Bedeutung von Alter für den Umgang mit der Kamera und die Frage nach nicht-menschlicher Handlungsmacht im Film beleuchtet werden.

143Überraschenderweise nutzten Larry und Peggy selbst den Film kaum, um eine enge Beziehung zu ihren Kindern herzustellen und zu präsentieren. Die meisten Aufnahmen zeigen Lawrence jr. und David zusammen mit den Großeltern oder ihrem Kindermädchen. Dass gerade diese Szenen fehlen, entsprach auch dem Fokus der Gesellschaftsberichterstattung. Denn Kindern und der Elternrolle kam in der High Society nur marginale Bedeutung zu. So war es auch nicht besonders wichtig, die eigenen Kinder auf den Reisen zu filmen oder sich gemeinsam mit ihnen zu inszenieren. Bereits der Filmtitel bringt auf den Punkt, dass es sich zumindest medial um eine ungewöhnliche Konstellation handelte.

Tatsächlich fiel es Edward und Agnes auch schwer, sich ›richtig‹ vor der laufenden Kamera zu verhalten. Die beiden fühlten sich in Aufnahmesituationen sichtlich unwohl, bewegten sich kaum, wandten sich ab und vermieden den Blick in die Kamera. Zwar hatten Peggys Eltern gelernt, im Fotostudio zu posieren, dem auf Bewegung und Dynamik ausgerichteten neuen Medium Film waren sie jedoch nicht mehr gewachsen, wie eine Szene in Versailles demonstriert (Szene 28).

Szene 28 »The Whole Damn Family in Europe«, Margaret und Lawrence Thaw, 1933, 62 Min., Imperial War Museum.

 

Gegen ihren Willen sichtbar gemacht zu werden, war dabei keine Kleinigkeit für die beiden. Erzwungenermaßen vor der Kamera zu stehen, empfand Peggys Mutter geradezu als körperlich unangenehm. Tatsächlich fand sie dafür in einem Brief an ihre Tochter drastische Worte, als sie sich an die Europareise erinnerte: »the photographing […] was always torture«.[23] Dass die Eltern die Aufnahmesituationen dennoch über sich ergehen ließen, demonstriert einmal mehr die Macht der Kamera, den Handlungsspielraum der Akteure festzulegen.

Dagegen hatten Lawrence jr., David und die Terrier gar kein oder nur ein eingeschränktes Verständnis davon, dass sie gefilmt wurden. Die Kinder sind meist spielend zu sehen, ohne dabei ihrem Vater mit der Kamera Aufmerksamkeit zu schenken (Szene 29).

Szene 29  »The Whole Damn Family in Europe«, Margaret und Lawrence Thaw, 1933, 62 Min., Imperial War Museum.

 

Nur in wenigen Szenen nahmen sie die Aufnahmesituationen wahr, etwa wenn Lawrence jr. ins Bild rennt, um seinen Bruder für die Aufnahme zu provozieren (Szene 30), oder David wie eingefroren vor der Kamera verharrt und nachdenklich in die Linse starrt (Szene 31). Der ältere Lawrence jr. schien bereits teilweise begriffen zu haben, dass in einer Drehsituation eine besondere Handlung gefordert war. Seinen jüngeren Bruder lähmte stattdessen die Erkenntnis, gefilmt zu werden.

Szene 30 »The Whole Damn Family in Europe«, Margaret und Lawrence Thaw, 1933, 62 Min., Imperial War Museum.

 

Szene 31 »The Whole Damn Family in Europe«, Margaret und Lawrence Thaw, 1933, 62 Min., Imperial War Museum.

 

Eine gelungene Filmaufnahme beruhte in erster Linie darauf, dass sich die Gefilmten bewegten – eine Anforderung, die die Hunde oftmals besser erfüllten als die Menschen.

144Gemeinsam schließlich meisterten Großeltern, Enkel und Tiere aber die Drehsituationen recht gut. Die Kinder und Hunde veranlassten Edward und Agnes dazu, sich zu bewegen, sie gaben ihnen eine Aufgabe vor der Kamera und zusammen erzeugten sie kurze Handlungsabläufe. Zugleich koordinierten die Großeltern wiederum das Verhalten der Tiere und Kinder, als sie beispielsweise mit den Hunden an Deck des Transatlantikdampfers oder mit den Enkeln am Strand spielten (Szene 32, 33). So bewegten sich Kinder und Terrier nicht zu schnell und blieben im Sichtfeld der Kamera.

Szene 32 »The Whole Damn Family in Europe«, Margaret und Lawrence Thaw, 1933, 62 Min., Imperial War Museum.

 

Szene 33 »The Whole Damn Family in Europe«, Margaret und Lawrence Thaw, 1933, 62 Min., Imperial War Museum.

 

Dass Filme Vorstellungen von Tieren und ihre Stellung in einer Gesellschaft wesentlich prägen, ist inzwischen ein Allgemeinplatz in den Geisteswissenschaften.[24] Inwiefern lässt sich das Medium Film aber auch als eine Quelle für tierliche Medienkompetenz oder gar agency nutzen? Die Human-Animal Studies verorten Fragen nach tierlicher Handlungs- und Wirkungsmacht theoretisch in einem »Spannungsfeld der Intentionalität von Handeln, der Möglichkeit/Kapazität zur Handlung bzw. dem Vollzug der Handlung (›Performanz‹) und den messbaren bzw. historisierbaren Effekten von Handlungen.«[25] In diesem Kontext hat jüngst Mieke Roscher gefordert, anstatt eines überzeitlichen agency-Konzepts für nichtmenschliche Tiere stets die konkreten Machtverhältnisse und Handlungsspielräume sowie zeitgenössische Vorstellungen von Handlungsmacht ernstzunehmen.[26] Die Terrier in »The Whole Damn Family in Europe« beeinflussten das Verhalten der Menschen vor (und sicherlich auch hinter) der Kamera nicht nur ganz deutlich, sondern agierten auch alleine gewissermaßen als Hauptdarsteller. Hier lässt sich an Überlegungen von Pascal Eitler anknüpfen, der im Zusammenhang mit tierlicher agency ebenfalls eine praxeologische und zeitliche Perspektive einnimmt. In Anlehnung an Andreas Reckwitz schlägt er vor, von den Praktiken auszugehen, denen zu einem bestimmten Zeitpunkt Handlungsmacht zugeschrieben wird: »They [humans, animals and other beings] must be attri145buted with and possess certain capacities that allow them to carry out practices conditional for being considered as an actor in a given society.«[27]

Damit ist es nicht entscheidend, ob den Hunden ihr Gefilmtwerden bewusst war oder sie intentional handelten. Sie verfügten über ein bestimmtes (Bewegungs-)Wissen, wie etwa ein Stöckchen zu apportieren, das eine Form von Medienkompetenz begründete. Indem Larry die Terrier nun in Aktion aufnahm, attestierte er ihnen, filmenswert zu sein und sich ›richtig‹ vor der Kamera zu verhalten. Sie zudem in Interaktion mit Menschen zu zeigen, bestätigte ihre Handlungsmacht umso mehr – allerdings nur im spezifischen Filmkontext. Die doppelte Wortbedeutung des englischen actor als Akteur und Schauspieler erweist sich mit Blick auf »The Whole Damn Family in Europe« als besonders aufschlussreich: Indem die Hunde als Darsteller im Film agierten, verlieh der Film ihnen eine besondere Form von zeitlich und räumlich begrenzter Handlungsmacht, die sie außerhalb des Kamerasichtfeldes nicht hatten.