Form 71
Flasche mit linsenförmigem Gefäßkörper und Standplatte  

Vgl. Form Morin-Jean 65

Kat. 263 Flasche, Inv. Glas 541

Grab 53

H. 27,8 cm. Br. 16 cm.

Glas farblos. Fadenauflage opakweiß, -blau und -rot sowie farblos und vergoldet. Freigeblasen.

Linsenförmiger Gefäßkörper seitlich zusammengedrückt, unten daran angesetzt runder Knauf und scheibenförmige, im Profil geschwungene Standplatte. Rand der Standplatte nach unten gebogen; Heftnarbe. Konischer Hals sich trichterförmig erweiternd. Rand mit blauem Faden verrundet. Auf der abgeflachten Vorder- und Rückseite ein gleichartiger Fadendekor: in der Mitte eine Spirale mit einem feinen vergoldeten Faden aus farblosem Glas (Dm. ca. 1 mm) sechsfach um einen roten Mittelpunkt eingerollt. Rings um die Spirale vier gezackte Blätter diagonal angeordnet. Ihre Blattrippen aus opakblauem Faden an der Spirale angesetzt. Der Blattumriß rechts und links mit einem vergoldeten farblosen Faden mit bis zu zehn Zacken gezeichnet. Zwischen den Blättern vier Girlandenbögen in dichten Zickzacklinien aufgelegt mit opaken blauen, roten sowie vergoldeten farblosen Fäden. An den Girlandenenden dünne ‚Schnüre‘ mit bewegten Enden aus opakweißen Fäden befestigt. Um den Hals der Flasche oben zwei aufgelegte opakweiße Fäden. Weitere opakweiße Fäden am Halsansatz und oberhalb des Knaufs auf dem Gefäßkörper umlaufend, die beiden oberen und unteren Girlanden scheinen daran zu hängen. Auf Knauf und Standplatte jeweils ein farbloser Faden. Auf den beiden Schmalseiten des linsenförmigen Gefäßkörpers zackenartig herausgekniffene blaue Auflagen. Zwei Henkel auf den Schultern seitlich des Halses aufgesetzt und am Hals unterhalb der Mündung endend. Auf den Henkeln eine zackig gekniffene opakweiße Fadenauflage, das obere Fadenende zu einer hochstehenden Ringöse gebogen.

Zusammengesetzt, Sprünge. Fehlstellen vor allem auf einer Gefäßseite. Teile der Standplatte verloren. Ergänzungen mit Kunststoff.

Lit.: Kisa 1895, 53 Taf. 2,5. – Kisa 1908, 452 Abb. 120, Taf. V 2. – Morin-Jean 1913, 204–206 Abb. 274. – Fremersdorf, Schlangenfadenglas, 56 Taf. 70–71. – Doppelfeld 1966 , 54 Farbtaf. 1; – Glas der Caesaren, Nr. 56. – von Boeselager 1989a, 25–28 Abb. 1.

Abb. 343. Form 71. Vorder- und Rückansicht von Kat. 263. Inv. Glas 541.
Abb. 343. Form 71. Vorder- und Rückansicht von Kat. 263. Inv. Glas 541.
Abb. 344. Form 71. Seitenansicht von Kat. 263. Inv. Glas 541.
Abb. 342. Form 71. Kat. 263. Inv. Glas 541. M. 1:2.

Kat. 264 Flasche, Inv. Glas 542–547; verloren

Grab 53

Sechs „Bruchstücke einer zweiten ganz gleich geformten und dekori[e]rten Kanne“ (Inventarbuch).

Lit.: Fremersdorf, Schlangenfadenglas, 57[1039].

Abb. 345. Flasche aus Nimwegen, Sint Jorisstraat. Museum Het Valkhof (G.N. BC I 92).

Grabtypus und Fundlage: Die Flasche Kat. 263 und ihr verlorenes Gegenstück Kat. 264 stammten aus einem „Tuffsteinsarge“, der neuerdings als Aschenkiste bestimmt werden konnte. Grab 53 war also keine Körperbestattung, wie bisher angenommen. Die Spiegelbeigabe läßt auf eine weibliche Verstorbene schließen.

Form und Technik: Kat. 263 zeigt eine Sonderform. Die heiße Glasblase wurde auf zwei Seiten so zusammengedrückt, dass ein Gefäßkörper mit relativ planen Flächen für einen reichen Dekor entstand. Hierzu wurden ca. 1 mm dünne zähflüssige Glasfäden zu engen Spiralen gerollt sowie mit dichten Zackenlinien die Umrisse von Blättern und die Girlanden gezeichnet. Der buntfarbene Dekor besteht außer aus feinen blauen und weißen, auch aus roten sowie vergoldeten farblosen Fäden, die relativ selten vorkommen. Die dargestellten ‚Rollengirlanden‘ sind u. a. aus der Wandmalerei bekannt[1040], in der Glaskunst jedoch ungewöhnliche Motive. Die Flasche wurde wegen ihrer virtuosen Technik der Fadenauflage auch unter dem Namen das ‚Meisterstück‘ der Kölner Schlangenfadenwerkstatt bekannt.

In Köln wurde eine weitere Flasche mit linsenförmigem Gefäßkörper, allerdings ohne Henkel, gefunden[1041]. Die farblosen Auflagen zeigen indes den üblichen Dekor aus relativ dicken Schlangenfäden, die offenbar freihändig im erhitzten Zustand aufgelegt wurden und dabei mit der Wandung verschmolzen sind. Beim Fundstück Kat. 263 von der Luxemburger Straße ist der Glasbläser vermutlich anders vorgegangen. Er hat die kleinteiligen Motive aus feinen blauen, roten, weißen und farblosen Fäden vorgeformt und dann auf die relativ abgekühlte Wandung appliziert. Für dieses Verfahren sprechen die Funde von ca. 20 Fragmenten von Spiralen und Zickzackfäden in einem Sarg an der Alten Wallgasse, die sich beim Aufschmelzen lediglich oberflächlich mit der Wandung verbanden, so dass sie sich später wieder abgelöst haben[1042]. Die Vorder- und Rückseiten der abgefallenen Motive sind kaum zu unterscheiden. Es scheint jedoch, dass der farblose Faden beidseitig vergoldet ist, was bedeuten würde, dass er bereits vergoldet war, als die Motive aufgeschmolzen wurden. Reste der Vergoldung haben sich außer bei Kat. 263 auch bei der Garnitur Kat. 273 und Kat. 274 (Form 72 und 73) von der Luxemburger Straße erhalten. Sie sind ein Merkmal besonders qualitätvoller Gläser aus den Nekropolen der CCAA[1043].

Verwendung und Gefäßkombination: Die Flasche Kat. 263 war wegen des vergoldeten Dekors kaum für den täglichen Gebrauch bestimmt. Die Tatsache, dass ursprünglich zwei gleichartige Luxusgläser dem Toten beigegeben waren, unterstreicht den außergewöhnlichen Charakter des Brandgrabes (Taf. 79).

Datierung: Die Flasche Kat. 263 wurde 1959 von Fremersdorf in die zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts eingeordnet[1044]. Die Datierung leitet sich von den Glasfragmenten von der Alten Wallgasse ab, wo sie 1957 aus einem Holzsarg mit Bleieinsatz geborgen wurden[1045]. Unter den mehr als 20 Bruchstücken ist ein spitzwinklig geöffnetes Wandungsfragment, das auf ein linsenförmig abgeflachtes Gefäß schließen lässt[1046]. Hinzu kommen Bruchstücke von farblosen Spiralen mit blauem Mittelpunkt und von fortlaufend gewundenen Auflagen, die Blattränder gewesen sein könnten. Das Körpergrab enthielt als jüngste Münze eine Prägung von 293/305 n. Chr.[1047]. Fremersdorf sah darin „die große Überraschung in der Datierung“ und schloss auf eine entsprechende Einordnung des ‚Meisterstücks‘ von der Luxemburger Straße[1048]. Auffallend ist jedoch, dass das Glas von der Alten Wallgasse in stark fragmentiertem Zustand und offenbar in einem Gewebebeutel bei der rechten Hand der Verstorbenen gefunden wurde[1049]. Es ist daher mit der Möglichkeit zu rechnen, dass es als zerbrochenes Altstück in den Sarg gelegt wurde.

Für F. Fremersdorf waren die Fragmente ein Hinweis darauf, dass es eine Gruppe später Schlangenfadengläser gegeben hat, die fast 100 Jahre jünger als die übrigen waren[1050]. Die Annahme, dass Schlangenfadengläser bis zum frühen 4. Jahrhundert produziert wurden, setzte sich dann in der Forschung soweit durch, dass C. Isings sich veranlasst sah, ihre bis dahin vertretene Chronologie zu korrigieren. Als Konsequenz datierte sie u. a. die linsenförmige Flasche aus Nimwegen, Sint-Jorisstraat (Abb. 345), die mit dem Kölner ‚Meisterstück‘ unmittelbar vergleichbar ist, an das Ende des 3. Jahrhunderts oder in das frühe 4. Jahrhundert[1051].

In der bisherigen Diskussion ist man davon ausgegangen, dass das ‚Meisterstück‘ aus dem Steinsarg einer Körperbestattung stammte. Der Tuffsarg hatte jedoch, wie eine Archivalie zu Grab 53 sichert, eine so geringe Größe, dass er eine Brandbestattung enthalten haben muss. Hinzu kommt, dass Fremersdorf zur Grabausstattung gehörige Metallbruchstücke nicht berücksichtigt hat. Sie stammen vermutlich von einem Reliefspiegel, der mit einer Gruppe von verzierten Spiegelkapseln und Behältern für Salbenreibsteine stilistisch verwandt ist. Diese Metallarbeiten wurden von J. Werner der Werkstatt des Saciro zugeschrieben und um 200 n. Chr. datiert[1052]. Der Kölner Reliefspiegel ist möglichweise noch älter und als Altstück beigegeben worden[1053].

Für die Frage der Datierung können zwei qualitätvolle Gläser herangezogen werden, die mit dem ‚Meisterstück‘ eng verwandt sind und aus fundgesicherten Gräbern stammen. Die bereits genannte Flasche aus Nimwegen, Sint-Jorisstraat mit einem linsenförmigen Gefäßkörper und aufgelegten Girlanden und Blättern ist in Form und Dekor die nächste Parallele zum Kölner Glas[1054]. Sie stammt aus einer Tuffsteinkiste, in der Knochenreste gefunden wurden. Es ist aber nicht gesichert, ob es eine Körper- oder eine Brandbestattung gewesen ist. Beigaben waren ein Messer mit Bernsteingriff in Form eines Hundes, eine rechteckige Glasflasche (Form Isings 90) und ein Glasspiegel, der auf eine weibliche Bestattung schließen läßt. Neben der Steinkiste stand ein Metalleuchter (H. 12,8 cm). Ein ähnlicher Leuchter wurde in Naaldwijk in einer römischen Siedlung vom Ende des 1. oder des 2. Jahrhunderts gefunden[1055].

Die Kanne aus Cortil-Noirmont in Brüssel hat einen ähnlichen Dekor wie das Kölner ‚Meisterstück‘[1056] (Abb. 245). Sie ist mit Blättchen aus aufgelegten Fäden verziert, die einen vergleichbaren gezackten Umriß und eine Mittelrippe bilden. Die Kanne stammt aus der Brandbestattung eines Tumulus, in den sie, wie Münzfunde belegen, sicher nach 162/163 n. Chr. eingebracht wurde[1057]. Zu den älteren Beigaben zählen Metallgefäße und Keramik des späten 1. und des 2. Jahrhunderts[1058]. Jünger sind zwei Randreifen von Hemmoorer Eimern und das reparierte Altstück eines Beckens mit gewellten Kanneluren, die einen chronologischen Rahmen vom letzten Viertel des 2. bis zum 1. Viertel des 3. Jahrhunderts umfassen[1059].

Festzuhalten bleibt, dass die Grabkontexte der Flasche aus Nimwegen und der Kanne aus Cortil-Noirmont keine Anhaltspunkte für ihre Datierung um 300 n. Chr. bieten. Nach der Bestattungsart und den Beigaben sind es reiche Bestattungen der mittleren Kaiserzeit, vermutlich aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts. Die beiden Gläser und das ‚Meisterstück‘ Kat. 263 sind im Dekor so nahe verwandt, dass sie nicht in einem großen zeitlichen Abstand entstanden sein können. Zumal, wenn man wie bereits Fremersdorf, eine Provenienz aus Glashütten der CCAA annimmt[1060]. Anders verhält es sich bei der 1879 in Straßburg gefundenen Flasche. Sie hat ebenfalls einen linsenförmigen Gefäßkörper; die farblosen Fäden in Form von Blättern und die opakblauen Auflagen auf den Schmalseiten sind jedoch weit weniger kunstfertig ausgeführt und nicht unmittelbar vergleichbar. Die Flasche lag in einem Holzsarg zusammen mit einem Schliffbecher (Form Isings 106) und einer nicht mehr identifizierbaren Flasche. Der Grabkontext ist somit nicht näher datierbar. V. und J. Arveiller haben die Straßburger Flasche im Anschluß an Fremersdorf gegen 300 n. Chr. angesetzt[1061].

Die bisherige Datierung des ‚Meisterstücks‘ in die Zeit um 300 n. Chr. lässt sich weder durch die Bestattungsform von Grab 53 noch durch die anderen Beigaben begründen. Die Grabkontexte der vergleichbaren Gläser aus Cortil-Noirmont und Nimwegen, Sint-Jorisstraat, die aus der mittleren Kaiserzeit stammen, sind weitere Argumente. Hinzu kommt die Technik des Schlangenfadendekors. Bereits 1971 hat van Buchem auf die enge technische Verbindung innerhalb der Gruppe der Schlangenfadengläser hinweisen und ausführlich begründet, dass sie in einem begrenzten Zeitraum entstanden sind[1062]. Insofern lässt sich die Auffassung, dass die beiden linsenförmigen Flaschen in Nimwegen und Köln in großem zeitlichen Abstand von den übrigen Schlangenfadengläsern entstanden sind, nicht aufrecht erhalten. Die verschiedenen Gründe sprechen dafür, dass Kat. 263 nicht um 300 n. Chr., sondern bereits in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts ins Grab gelangt ist.