Form 76
Saugheber  

Vgl. Form Morin Jean 127; Trier 164; Gellep 543

Kat. 277 Röhrchen eines Saughebers, Inv. 67,1071

Grab 82

H. noch 3,5 cm; L. 3 cm. Dm. 0,8 bis 1,2 cm.

Glas farblos. Freigeblasen.

Fragmente eines gebogenen und eines geraden Röhrchens.

Lit.: unpubliziert.

Abb. 370. Form 76. Kat. 277. Inv. 67,1071.
Abb. 370. Form 76. Kat. 277. Inv. 67,1071. M. 1:2.

Form 76 ohne Fundzusammenhang: Slg. Niessen 1911, 55 Nr. 994–996 Taf. 47.

Grabtypus und Fundlage: Die Bruchstücke Kat. 277 stammen aus dem Körpergrab eines Mädchens und lagen am Fußende innerhalb des Holzsargs.

Form und Technik: Die röhrenförmigen Fragmente stammen vermutlich von einem sog. Saugheber. Die Form ist durch mindestens drei weitere Beispiele von der Luxemburger Straße belegt, die bei der Auffindung gut erhalten waren und eine zeichnerische Rekonstruktion der Fragmente Kat. 277 ermöglichen[1114]. Demnach bestand der Saugheber aus einem heute verlorenen ovalen Gefäßkörper und zwei oben und unten ansitzenden Röhrchen. Das erhaltene gerade Bruchstück, das sich nach vorne verengt, war Bestandteil des unteren Röhrchens. Das gebogene Fragment dürfte Teil der oberen Röhre gewesen sein, die wahrscheinlich zickzackförmig zunächst auf-, dann absteigend verlief. Der ovale Gefäßkörper war vermutlich eingedellt. Da sämtliche Beispiele der Form 76 mit einer Delle versehen sind, scheint diese nicht zufällig während des Blasvorgangs entstanden zu sein (etwa durch Einsinken der Glasblase), sondern wurde vermutlich absichtlich erzeugt. Die vollständig erhaltenen Funde von der Luxemburger Straße hatten eine beträchtliche Länge von 45 bzw. 35 cm.

Außer an der Luxemburger Straße sind in Köln mindestens vier weitere Saugheber gefunden worden[1115]. Bei zwei weiteren Exemplaren heute im Saalburgmuseum ist der Fundort unbekannt. Da sie als Schenkung des Kölner Sammlers Niessen dorthin gelangten, dürften sie aus dem Rheinland, wenn nicht aus Köln, stammen[1116]. Die genannten Beispiele sind stets mit zwei Röhrchen versehen[1117]. Anders verhält es sich mit einem Fundstück von der Jakobstraße in Köln, das bisher als Saugheber gedeutet wurde[1118]. Es besaß ein Röhrchen, dessen Ausbruchstelle am Gefäßkörper noch zu sehen ist; die Stelle eines zweiten Röhrchens nimmt ein massives Glasstäbchen ein. Ein Saugheber ist jedoch ohne ein zweites Röhrchen nicht funktionsfähig, so dass es sich beim Gerät von der Jakobstraße um ein Schlauchgefäß handeln muß[1119]. Gläser der Form 76 wurden auch in Xanten, Trier, Gondorf, Straßburg, Bercenay-en-Othe (Aube, F) und Strée (B) ausgegraben, ihr Fundzusammenhang ist jedoch meist verloren[1120].

Verwendung und Gefäßkombination: Saugheber werden zum Aufnehmen einer Flüssigkeit benutzt. Hierzu wird die Spitze des unteren Röhrchens in die Flüssigkeit eingetaucht und das obere Röhrchen zum Mund geführt. Sobald der Mund daran saugt, steigt die Flüssigkeit hoch und füllt den ovalen Gefäßkörper. Wird das obere Röhrchenende dann zugehalten, entsteht ein Unterdruck im Inneren des Röhrchens und das Glasgerät kann hochgenommen werden, ohne dass unten Flüssigkeit ausfließt. Sobald das Röhrchen wieder offen ist, strömt Luft oben nach und das Angesaugte fließt unten aus. Mit dem Saugheber lässt sich auf diese Weise Flüssigkeit ‚transportieren‘ und von einem Gefäß in ein anderes umfüllen.

Nach dem Prinzip des Saughebers funktionieren die heutigen Pipetten als Laborgeräte[1121]. Es sind allerdings einfache Röhrchen, die zum Dosieren geringer Flüssigkeitsmengen verwendet werden, während die ausgebauchten römischen Saugheber größere Volumina fassen können. Ein formaler Unterschied ist ferner die Zickzackform des oberen Röhrchens. Der Saugheber erhält dadurch eine Kunstform, die an einen Schwan erinnert, wenn man das Glas horizontal ausrichtet und auf der Delle ablegt. Entsprechend wird diese in der Glasliteratur häufig als Standfläche beschrieben. Experimentelle Versuche mit einer Nachbildung zeigen jedoch, dass der Saugheber nicht horizontal aufgestellt werden kann, da die beiden Röhren unterschiedlicher Form und Länge ein Gleichgewicht verhindern und die Delle nicht die Funktion einer Standfläche übernimmt. Die Delle erleichtert jedoch die Benutzung des Saughebers, für die beide Hände erforderlich sind. Mit der einen Hand, in der Regel die Linke, wird das Glasgerät am ovalen Gefäßkörper gefasst, wobei der Daumen automatisch in die Delle zu liegen kommt. Die rechte Hand verschließt mit dem Zeigefinger oder Daumen das obere Röhrchen und solange dieses geschlossen gehalten wird, bleibt die angesaugte Flüssigkeit im Inneren des Gefäßkörpers.

Die Frage, für welche Flüssigkeit römische Saugheber benutzt wurden, ist bisher nicht geklärt. Gegen die Annahme, dass sie im medizinischen Bereich verwendet wurden, sprechen die beträchtliche Länge und Voluminia der römischen Gläser. Kisa hat vorgeschlagen, daß mit Saughebern wohlriechende Essenzen beim Mahl versprüht wurden[1122]. Experimente mit einer mit Wasser gefüllten Nachbildung haben jedoch gezeigt, dass bereits ein leichtes Anheben des Fingers und ein spaltweises Öffnen des oberen Röhrchens ausreichen, dass ein feiner Wasserstrahl sogleich am unteren Ende austritt. Die Ablaufzeit ist so kurz, dass sich keine Tropfen bilden. Ein Versprühen von Essenzen ist mit dem Saugheber nicht möglich, hierfür ist ein Sprenger, der ein kugeliges Ende mit Sprühlöchern besitzt, zu verwenden.

Den entscheidenden Hinweis auf die Verwendung römischer Saugheber liefert der Grabstein des Tridentiner Weinhändlers P. Tenatius Essimnus in Passau[1123]. Er zeigt den Verstorbenen neben drei gestapelten Fässchen stehend mit einem doppelhenkligen Gefäß in der rechten Hand, während die linke Hand das untere Ende eines gebauchten Röhrengefäßes in das kantharosartige Gefäß einführt. Der Dargestellte ist offenbar dabei, Wein mit einem Saugheber in ein Henkelgefäß, vielleicht ein Trinkbecher, einzufüllen. Von diesem Relief ausgehend werden die Glasgeräte Form 76 als sog. Stechheber gedeutet, wobei die langen Röhren vermutlich dazu dienten, den Wein aus größeren Vorratsgefäßen, wie Keramikamphoren oder Holzfässern, zu entnehmen. Gleichzeitig verhindert die Zickzackform, dass die Flüssigkeit durch zu starkes Saugen sogleich bis zum Mund steigt. Noch heute werden Stechheber für die Weinprobe benutzt, um den Gärungsprozess im Lagerbehälter zu prüfen. Die Darstellung auf dem Grabstein könnte ein Hinweis dafür sein, dass die römischen Weinheber der Form 76 auch zum Einfüllen in Trinkgefäße verwendet wurden.

Datierung: Die Fragmente Kat. 277 stammen aus einer Bestattung, die im frühen 4. Jahrhundert in den Boden gekommen ist. Die bei St. Severin an der Corneliustraße gefundenen Bruchstücke lagen in Grab IX,27 des späten 3. Jahrhunderts[1124]. In Gellep wurde ein Exemplar aus Kammergrab 3040 geborgen, das Münzbeigaben in die Zeit nach 341 n. Chr. datieren[1125].